Die Nacht ist noch zu wenig Nacht

„Talk mit Kafka“: Eine Journalistin (Hannah Zitzmann, l.i.B.) interviewt den Schriftsteller Franz Kafka (Andreas Belwe, r.i.B.). Foto: Isabella Heller

Theater in Miesbach

Eine heutige Journalistin interviewt Franz Kafka im Sanatorium Matliary: Das ist das Setting von „Talk mit Kafka“, dem neuen Buch von Autor Dr. phil. Andreas Belwe und Co-Autorin Hannah Zitzmann. Mit dessen Bühnenversion sind die beiden nun auf Tour und brachten einen überaus redseligen Kafka in den Waitzinger Keller.

Wer sich der gängigen Auffassung anschließt, dass es Zeitreisen nicht wirklich gibt, der gehört wohl auch zu denen, die noch nie das Tagebuch eines längst verstorbenen Literaten aufgeschlagen haben: Vernimmt man darin doch bisweilen eine sonderbar direkte Stimme, so direkt, als würde sie durch die Zeit hindurch zu einem sprechen, als stünde der Verfasser der intimen Zeilen mit einem Mal quicklebendig im Raum. Vergangenen Freitag jedenfalls stand ein Franz Kafka aus Fleisch und Blut auf der Bühne im Kulturzentrum Waitzinger Keller in Miesbach. Das heißt, er stand nicht, er saß, im Sanatoriums-Sessel mit einer Decke um die geschwächten Glieder, einer ziemlich neugierigen Journalistin gegenüber, die ihn anlässlich seines 100. Todestages mit einer vorwitzigen Frage nach der anderen konfrontierte.

Warten auf Kafka: Noch ist die Bühne im Waitzinger Keller menschenleer… Foto: Isabella Heller

Großgeister aus der Vergangenheit

Schon 2017 traten Dr. Andreas Belwe und Hannah Zitzmann mit einem Bühnenprogramm zu Arthur Schopenhauer im Waitzinger Keller auf, mit gleicher Rollenverteilung wie beim „Talk mit Kafka“: Die Opernsängerin Hannah Zitzmann als Interviewerin, der Hochschulprofessor und philosophische Unternehmensberater Andreas Belwe als Interviewter. Das von ihnen ins Leben gerufene Veranstaltungsformat „philosophy meets jazz“ habe zum Ziel, dem Publikum Philosophie und Literatur auf unterhaltsame Weise näher zu bringen: Die jeweilige Persönlichkeit – auch Hermann Hesse (2019) und Rosa Luxemburg (2021) waren bereits mit von der Partie – solle in der Atmosphäre einer modernen Talkshow zum Leben erweckt und deren Gedankenwelt in heutige Sichtweisen und Zusammenhänge transferiert werden, so die Veranstalter. Dies ermögliche einen spielerischen, unmittelbaren Zugang zum Wesen und Denken dieser Großgeister aus der Vergangenheit.


Die Pianistin Megumi Onishi, die mit Herzblut als Kirchenmusikerin und Chorleiterin arbeitet. Foto: Isabella Heller

Begleitet werden die beiden Verantwortlichen dabei für gewöhnlich von einem Jazz-Duo, diesmal allerdings war es klassische Musik, die den akustischen Ausgleich zur gehörten Textmenge schuf: Die japanische Pianistin Megumi Onishi spielte ein imposantes Repertoire von Schumann über Mozart bis Béla Bartók.

Am Anfang war das Buch

Die beiden Autoren des Buchs „Talk mit Kafka“ (Königshausen & Neumann) hatten sich vor zwei Jahren der ungeheuren Aufgabe angenommen, Kafkas hinterlassenes Konvolut aus Tagebucheinträgen und Briefen in Gänze zu sichten und dazu entsprechende, d.h. sich an diesen Originalzitaten entlanghangelnde, Interviewfragen zu entwickeln, die den Eindruck eines organisch wachsenden Gesprächs erwecken sollten. Und tatsächlich: Nicht ein einziges Mal kam bei diesem Bühnenstück der Eindruck auf, dass die Frage nicht zur Antwort oder die Antwort allzu sehr zur Frage passte. Auch hatten die einstmals geschriebenen Aussagen Kafkas, die Andreas Belwe in eindrücklich ungekünstelter Weise mündlich wiedergab, keinen abgelesenen Charakter; vielmehr wirkte die literarische Qualität der Tagebuch- und Briefzitate wie der unumstößliche Beleg einer höchst eigenwilligen, nicht selten fantastischen, von Grund auf schöpferischen Innenwelt Franz Kafkas.


Dr. Andreas Belwe und Hannah Zitzmann präsentieren ihr Buch „Talk mit Kafka“, das seit März 2024 im Buchhandel erhältlich ist. Foto: Isabella Heller

„Ich bin einsam – wie Franz Kafka“

Anders als im Buch habe man bei der Bühnenfassung auf Ausschnitte aus den berühmten Werken Kafkas verzichtet, erläutert Andreas Belwe im Anschluss an die Veranstaltung. Und das war fraglos eine gute Entscheidung: Denn dadurch ist kein berühmtes Werk mehr da, das sich vor seinen Verfasser stellt. Franz Kafka selbst tritt hier in seinen Worten hervor als der Mensch, der er war oder mitunter wohl gewesen sein muss: Als verstörter Sohn eines tyrannischen Vaters („der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz“); als unglücklich Liebender („Ich kann nicht glauben, daß in irgendeinem Märchen um irgendeine Frau mehr und verzweifelter gekämpft worden ist.“); als elend Kranker in einem Sanatorium („[…] ich bestehe nur aus Spitzen, die in mich hinein gehen“); als ein dem Wahnsinn Anheimgefallener („Die ungeheure Welt, die ich im Kopfe habe.“); und als gewollt Einsamer, gewissermaßen Ur-Einsamer: „Das Bedürfnis nach Alleinsein ist ein selbständiges, ich bin gierig nach Alleinsein.“ Darauf die Journalistin: „Sie sind demnach gewollt einsam wie ein – wenn ich das so sagen darf – einsam wie ein Anachoret?“ Und Franz Kafka antwortet: „Ich bin einsam – wie Franz Kafka.“

„Herr Kafka, schlafen Sie?“ Das Stück spielt im Sanatorium Matliary (in der heutigen Slowakei), in dem der schwerkranke Franz Kafka sich zwischen Dezember 1920 und August 1921 aufhielt. Foto: Isabella Heller

„Gott will nicht, dass ich schreibe“

Doch natürlich zeigt sich uns der Schriftsteller Franz Kafka vor allem als eines: Als ein vom Schreiben Besessener, ein allen Zweifeln zum Trotz Schreibender und unbestreitbar auch als ein selbstzerstörerisch Schreibender („Schone ich mich, schone ich mich, richtig gesehen, eigentlich nicht, dann bringe ich mich um.“); als ein sich deshalb von allen Lebensfreuden zunehmend Abwendender („Das Leben ist eine fortwährende Ablenkung“) und infolgedessen als ein umso mehr stille Bedürftiger: „Schreiben heißt ja sich öffnen bis zum Übermaß; die äußerste Offenherzigkeit und Hingabe, in der sich ein Mensch im menschlichen Verkehr schon zu verlieren glaubt, genügt zum Schreiben bei weitem nicht. Deshalb kann man nicht genug allein sein, wenn man schreibt, deshalb kann es nicht genug still um einen sein, wenn man schreibt, die Nacht ist noch zu wenig Nacht.“

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Und in der stillsten aller Nächte, wenn die Nacht Nacht genug ist, offenbart er sich uns als ein neuer, ungeahnter Kafka, nämlich als ein im Grunde Spiritueller: „Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich, wobei sowohl das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd verborgen bleiben können.“ Jedoch bleibt er in seiner Spiritualität ein unbestimmt Glaubender, der nur dann mit bestimmtem, festen Wort spricht, wenn er sich selbst wie der gesamten Menschheit innerhalb dieses Glaubens keinen allzu hohen Stellenwert einräumt („[…] wir sind nicht ein so radikales Hinabsinken Gottes, nur eine seiner schlechten Launen“) und der sich eben deshalb vielleicht den höchsten Mächten mit einiger Sturheit entgegenzustellen wagt: „Gott will nicht, dass ich schreibe, ich aber, ich muß.“

Applaus, Applaus! Megumi Onishi, Andreas Belwe und Hannah Zitzmann bei der Verbeugung im Waitzinger Keller. Foto: Isabella Heller

Kurz, Kafka will uns heute, im 21. Jahrhundert, erscheinen als der Mensch, den wir alle verkörpern: den vielgesichtigen, widersprüchlichen, unergründlichen Menschen. In diesem Sinne betont der Philosoph Andreas Belwe, als das Stück zu Ende ist und er den Kafka wieder abgeschüttelt hat, dass der Mensch schließlich „nicht aus ganzen Zahlen, sondern aus Brüchen“ bestehe. Und er gibt zu bedenken, dass die Ambiguität, für die Kafkas Werk wie kein zweites einsteht, etwas sein könnte, das man den gefährlichen heutigen Bestrebungen gegenüberstellen sollte, welche eine „Welt in Eindeutigkeit“ schaffen wollen. Die Auseinandersetzung mit Kafkas Werk dient somit auch als eine unerlässliche Übung in „Ambiguitätstoleranz“ (Belwe). Wobei es nicht immer nur die Mehrdeutigkeit des Verhaltens anderer ist, die uns ein Problem aufgeben müsste, sondern insbesondere auch die unserer eigenen Existenz.

Aber gewähren wir doch dem großen Geist aus der Vergangenheit das letzte Wort, in dem zuletzt noch eine menschliche Qualität aufblitzt, die im diesjährigen „Kafka-Jahr“ mehr denn je in den Fokus gerückt wurde – Kafkas Humor: „Jeder Mensch ist eigentümlich und kraft seiner Eigentümlichkeit berufen zu wirken, er muß aber an seiner Eigentümlichkeit Geschmack finden.“

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