
Erich Kästner in der Unterleiten
„Erich Kästner“ (2025), eine Kohlezeichnung von Paul Warburton. Foto: Marten Müller
Lesung in Schliersee
Es gibt etliche berühmte Persönlichkeiten, die es im vergangenen Jahrhundert an den Schliersee verschlagen hat. Dass Erich Kästner dazu gehört, wissen jedoch noch immer die wenigsten. Ihm zu Ehren fand nun erstmals eine Lesung in Schliersee statt – und zwar in jener Straße, in der er im Jahr 1945 für einige Wochen unterkam.
Als das Ende des Zweiten Weltkrieges schon absehbar war, plante die SS im Frühjahr 1945 eine grausame Mordserie, eine „Nacht der langen Messer“, die vor dem Einmarsch der Russen vollzogen werden sollte. Auch der Name „Erich Kästner“, so wurde es dem Schriftsteller von vertraulicher Seite noch rechtzeitig zugetragen, stand auf der Liste der vorgesehenen Opfer.
Der rettende Zufall wollte es, dass ein Freund von Kästner, der UFA-Produzent Eberhard Schmidt, zu diesem Zeitpunkt bereits den tollkühnen Plan gefasst hatte, mit einer 60-köpfigen Truppe – unter dem Vorwand eines Filmdrehs für den „Endsieg“ – aus dem zerbombten Berlin nach Österreich auszureisen. Schmidt, der die Erlaubnis des Reichsfilmintendanten schon sicher hatte, konnte Kästner und dessen Frau, Luiselotte Enderle, zwei Tage vor Abreise noch unbemerkt ins Team schleusen. So fuhr man im März 1945 gemeinsam ins Zillertal: eine Filmcrew mit einer Kamera ohne Filmrolle.
Ein unwahrscheinlich produktiver Schriftsteller: Zur Lesung gab es jede Menge Kästner-Bücher auf dem Büchertisch der Bücheroase Schliersee. Foto: Marten Müller
Ende Juni 1945 reiste die Gruppe schließlich zurück nach Deutschland, Richtung München, über Schliersee, wo sich Luiselotte Enderle und Erich Kästner kurzerhand absetzten, da in dem oberbayerischen Dorf auch Enderles Schwester lebte. Kästner und seine Frau weilten dort in einem Haus, das heute leider nicht mehr erhalten ist. „9. Juli 1945. […] Die neue Adresse heißt: Schliersee, Unterleiten 6“, liest man in Kästners Tagebuch. Mittlerweile steht an der Stelle des geschichtsträchtigen Hauses die (zwangsgeschlossene) Seniorenresidenz Schliersee.
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In seinem Kriegstagebuch „Notabene 45“ hat der Schriftsteller diese Wochen am Schliersee festgehalten, die sich vor allem durch eines auszeichneten: Warten… „Wir warten, dass etwas geschehe. Aber es geschieht nichts“, schrieb er ins Tagebuch. Doch irgendwann kam der ersehnte Aufwind: Im Herbst 1945 zog das Paar nach München, wo Kästner Feuilletonleiter der Neuen Zeitung wurde.
Garagenfest
80 Jahre später fiel Kästners Kriegstagebuch der Autorin Hannah Miska in die Hände. Auch sie hatte, obwohl sie seit geraumer Zeit in der Unterleiten wohnte, bis dahin nicht die leiseste Ahnung gehabt, dass der berühmte Schriftsteller ihr einstiger Nachbar gewesen wäre. Die Idee zu einer Lesung war geboren und umgesetzt nur wenig später: Im Anschluss an das „Kästner-Jahr 2024“, in dem Erich Kästner 125 Jahre geworden wäre und man bundesweit seinen 50. Todestag gefeiert hatte, sollte nun auch in der Unterleiten ihm zu Ehren eine Lesung stattfinden.
Er wäre vor 80 Jahren ihr Nachbar gewesen: Hannah Miska neben dem Porträt „Erich Kästner“ (2025) von Paul Warburton. Foto: Marten Müller
Kästner-Freunde scheint es in Schliersee jedenfalls zu Genüge zu geben, der Andrang war groß. Volles Haus hieß in diesem Fall aber: volle Garage. Denn das Ganze fand im Garagen-Atelier von Hannah Miskas Mann, dem Künstler Paul Warburton, statt. Daher war das Publikum rings umgeben von den jüngsten Werken des vielseitigen Künstlers. Dessen Kohlezeichnung „Erich Kästner“ (2025) hing imposant in der Mitte der improvisierten Lese-Bühne, an deren Seiten die kleineren Gäste auf Kissen und Bänken gemütlich Platz fanden.
Eine wahre Kästner-Freundin
Hannah Miska hatte in Jennifer Roger, Inhaberin der Bücheroase Schliersee, eine engagierte Mitveranstalterin, eine wahre Kästner-Freundin gefunden: „Ohne Jennifer Roger und die Bücheroase wäre Schliersee ein gutes Stück ärmer“, betonte Hannah Miska in ihrer Anmoderation. Anschließend stellten die beiden Veranstalterinnen die fünf jungen „Kästner-Detektive“ vor, die sich an der Lesung mit eigenständigen Beiträgen beteiligten. Denn was wäre eine Kästner-Lesung ohne Kinder?
Fünf „Kästner-Detektive“
Den Anfang machte Janosch Roger, mit 8 Jahren der jüngste Mitwirkende, der nicht nur wegen seiner Fliege am Hemdkragen einer Kästner-Geschichte entsprungen sein könnte. Er trug mit ganzer Kästnerischer Gewitztheit die beiden Epigramme „Zum neuen Jahr“ und „Sport Anno 1960“ auswendig vor.
Könnte einer Kästner-Geschichte entsprungen sein: Janosch Roger trägt Kästners Epigramm „Sport Anno 1960“ vor. Foto: Marten Müller
Lucy Zenglein las, außergewöhnlich souverän für ihre 13 Jahre, eine Passage aus „Emil und Detektive“, und man folgte ihrer Stimme und dem kleinen Emil gebannt durch die große Stadt Berlin, dem Gauner Grundeis immer auf den Fersen.
Lucy Zenglein trug, passend zur Verfolgungsjagd Emil Tischbeins, eine Deerstalker-Mütze (die ursprünglich bei der Jagd getragen wurde). Foto: Marten Müller
Die zwei Schwestern Lisa und Hannah Neiderhell lasen aus zwei besonders fantasievollen Kinderbüchern Kästners. Lisa Neiderhell, 10 Jahre alt, las einige Seiten aus der denkwürdigen Geschichte „Die Konferenz der Tiere“, in der es nottut, dass die Tiere sich um des Friedens willen zusammentun, „weil die Menschen ihre wichtigste Aufgabe vernachlässigen“ (Kästner).
Lisa Neiderhell liest aus „Die Konferenz der Tiere“ von Erich Kästner. Foto: Marten Müller
Hannah Neiderhell (11 Jahre), mit Zylinder auf dem Kopf, las ein Kapitel aus dem herrlich verrückten Kinderbuch „Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee“. Hier lachte das ganze Garagenpublikum und bewies damit einmal mehr, dass Kästners sogenannte Kinderbücher im Grunde keine Altersklassen kennen.
Hannah Neiderhell liest aus „Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee“. Neben ihr Drehorgelspieler Roger Houghton. Foto: Marten Müller
Der Überraschungsgast unter den „Kästner-Detektiven“ war die elfjährige Helena Jansen, die just in dieser Woche ein Schülerpraktikum in der Bücheroase absolviert und sich spontan dazu bereiterklärt hatte, bei der Lesung mitzuwirken. Gekonnt rezitierte sie das acht-strophige Gedicht „Der 13. Monat“ so gut wie auswendig, das Blatt in ihrer Hand war bloß noch Stichwortgeber.
Helena Jansen trägt das Gedicht „Der 13. Monat“ vor. Foto: Marten Müller
Es kommt viel zu selten bei öffentlichen Lesungen vor, dass Kinder aus Kinderbüchern vorlesen. Durch ihren ungekünstelten Vortrag wird das Fantastische irgendwie plausibel und so herzerwärmende Geschichten, wie wohl nur ein Kinderfreund wie Erich Kästner sie geschrieben haben kann, werden durch die Unmittelbarkeit der Kinderstimme für einen kostbaren Moment tröstlich real.
„Deutschlands hoffnungsvollster Pessimist“
Nicht nur die Kinder schlugen die Zuschauer an diesem Sonntagnachmittag in Bann, auch die beiden Veranstalterinnern der Lesung schwangen sich auf zu großartigen Darbietungen. Aus Kästners Kriegstagebuch „Notabene 45“ las Hannah Miska zunächst einige seiner Schliersee-Einträge vor, später folgte ein Ausschnitt aus dem autobiografischen Roman Kästners „Als ich ein kleiner Junge war“, den dieser speziell für Kinder geschrieben hat.
Hannah Miska liest aus Kästners autobiografischen Roman „Als ich ein kleiner Junge war“. Foto: Marten Müller
Jennifer Roger ergänzte diesen biografischen Teil der Veranstaltung noch um einige Eckdaten aus Kästners Leben (1899-1974) und hob dabei hervor, dass der Schriftsteller sich nie einer Partei angeschlossen habe, wenngleich er sich zeitlebens für Frieden und gegen das Vergessen stark gemacht hatte. Die beiden Veranstalterinnen hätten sich aber bewusst dafür entschieden, dass es „kein zu politischer bzw. historischer Nachmittag“ (Roger) werden solle, vielmehr ein heiterer; dem mit Heiterkeit allem Übel trotzenden Geist von „Deutschlands hoffnungsvollste[m] Pessimist[en]“ (M. Reich-Ranicki) entsprechend.
Jennifer Roger, Inhaberin der Bücheroase Schliersee, sieht man bei ihrem Vortrag die Kästner-Begeisterung an. Foto: Marten Müller
Der Fortschritt der Menschheit
So wechselte sich an diesem Nachmittag der hoffnungsvolle Pessimismus – beispielsweise in Hannah Miskas verschmitztem Vortrag der „Fabel von Schnabels Gabel“, bei der ein gewisser Herr Schnabel die von allen für unnütz befundene einzinkinge Gabel erfindet – mit pessimistischer Hoffnung ab, wie sie beispielsweise in Kästners Vorwort des „Fliegenden Klassenzimmers“ anklingt, das Jennifer Roger emphatisch vortrug: „Die Weltgeschichte kennt viele Epochen, in denen dumme Leute mutig oder kluge Leute feige waren. […] Erst wenn die Mutigen klug und die Klugen mutig geworden sind, wird das zu spüren sein, was ursprünglich schon oft festgestellt wurde: ein Fortschritt der Menschheit.“
Die Kästner-Leser (v.l.): Lucy Zenglein, Hannah Miska, Helena Jansen, Lisa Neiderhell, Hannah Neiderhell, Janosch Roger und Jennifer Roger. Foto: Marten Müller
Premiere für eine Drehorgel
Besonderes Schmankerl dieser Veranstaltung war die Drehorgel „Schliersee“, die sich der Engländer Roger Houghton „als Hommage an meine zweite Heimat“ (Houghton) in eineinhalb Jahren selbst gebaut hat – was wohlgemerkt eine „hochkomplexe Angelegenheit“ (Miska) ist. Pünktlich zur Lesung war die Drehorgel dann tatsächlich fertiggebaut und feierte ihre Premiere mit Liedern aus der „Kästner-Zeit“, z.B. „Wochenende, Sonnenschein“, „Mein kleiner grüner Kaktus“ oder „Oh Donna Clara“. Das Publikum ließ es sich natürlich nicht nehmen, in Houghtons Gesang fröhlich miteinzustimmen.
Roger Houghton mit seiner selbstgebauten Drehorgel „Schliersee“. Im Hintergrund Bilder des Künstlers Paul Warburton. Foto: Marten Müller
Diese Lesung, dieser gesellige und lustige Nachmittag in einer Schlierseer Garage, war einer, den Erich Kästner, würde er heute noch in der Unterleiten wohnen, sich ganz sicher nicht hätte entgehen lassen.
Ausgelassene Stimmung: Hannah Miska (l.i.B.) neben Roger Houghton und seiner Drehorgel „Schliersee“. Foto: Marten Müller