Lesung

Was ist eigentlich Heimat?

Bayern und dem Heimatbegriff widmeten sich (v. r.) Hans Kratzer und Sebastian Beck bei ihrer Lesung. Foto: MF

Lesung bei den Weyarner Kleinkunsttagen

Was macht Bayern aus? Was bedeutet Heimat? Dieser Frage gehen die beiden SZ-Redakteure Sebastian Beck und Hans Kratzer seit langem auf vielen Kilometern durch den Freistaat nach. Ihre bevorzugten Zielpunkte sind eher abseitig, haben nichts mit Klischees zu tun. Interessante Geschichten von Begegnungen mit Fremden und Impressionen aus dem eigenen Leben präsentierten sie nun in der Lesung zum Fotobuch „Zeitlang – unterwegs im unbekannten Bayern“ bei den 14. Weyarner Kleinkunsttagen im voll besetzten Kleinen Konzertsaal.

Man lebt in ihr, man stirbt in ihr. Aber was macht die Heimat aus?

„Hoamat is do, wo i mi aufhäng,“ zitierte Kratzer eingangs den Augsburger Schriftsteller Franz Dobler. Erst mal ein rasser Satz. „Man sieht – Heimat ist ambivalent,“ meinte der Redakteur dazu. Man lebt in ihr, man stirbt in ihr. Doch wie kann man sie beschreiben, fassen? Da ist zum einen die Heimat seines Lesungspartners Beck in seiner Penzberger Nachbarschaft mit zehn Nationen oder Kratzers Heimat mit Ortsnamen wie Kühzagl, Ratzenlehen oder Sakra, mit Doppel-, vier- oder fünffach-Verneinung – einfach zur klaren Emphase eines Gefühls. Unterschiedlich und doch beides Heimat.

Von der Bäuerin ohne Strom, Wirtshaussterben und künstlicher Intelligenz

Kratzer wuchs in der 400 Jahre alten Gastwirtschaft seiner Familie auf. Er erzählte ruhig, aber ebenso begeistert und voller Respekt mit Blick auf die Vergangenheit. Von einer alten Einödbäuerin, die noch ohne Strom, mit Ziehbrunnen für die Wasserversorgung lebte. Die Berge, die sie von ihrem Hof aus sah, wollte sie so gerne mal aus da „Nohad“, sprich Nähe, sehen. „Sie ist 90 geworden, aber hat es nie geschafft,“ sinnierte Kratzer. 2005 starb die Bäuerin. Während ihrer Beerdigung jetteten die Flugzeuge Richtung Flughafen Erding über den Friedhof. „Zwei Welten begegneten sich ein letztes Mal,“ war Kratzers Gefühl. Das archaische 19. Jahrhundert und die Moderne.

Dabei zeichnete er seine selbst erlebte Zeitreise von den ersten zwei Fernsehern in seinem Heimatdorf, die am Sonntag Völkerwanderungen auslösten, zum Schuster Edi, der sich das erste Auto leisten konnte hin zur künstlichen Intelligenz. Ein Umbruch , wie es ihn wohl bisher nie gegeben hat, gehe vonstatten – mit tiefgreifenden Veränderungen.

Lesung
Den immensen Zeitenwandel zeichnete Hans Kratzer pointiert auf. Foto: MF

Auch eine sicher geglaubte, bayerische Institution verschwinde immer weiter: das Wirtshaus mit grantigen Bedienungen und durchsetzungsfähigen Wirtinnen. „Von 2.000 Gemeinden in Bayern haben mittlerweile 700 keine Wirtschaft mehr,“ bedauerte der Autor. „Horte der Demokratie“ für alle, für Menschen jeden Ranges, würden so verloren gehen. Und Geschichten, etwa die von Lenin, der 1910 im Münchner Exil von einer Bedienung eine Watschn kassierte, weil er ihr an den Rock ging. Oder die von König Ludwig III., der gar in eine Wirtshausschlägerei verwickelt war.

Gammlerkneipen, Heimweh auf zwei Kilometer Distanz und eine neue Heimat

Um die Institution Wirtshaus ging es auch bei Sebastian Beck: „Ich wurde in den Wirtshäusern der 80er sozialisiert.“ Die alternativen Landwirtshäuser mit Konzertbühne, von den Eltern als „Gammlerkneipen“ verachtet, waren seine Heimat. Die Anekdote eines Punkkonzerts folgte, eine stürmische Melange aus verschüttetem Bier, Parolen gegen die Atomkraft, fruchtbar verzerrtem Sound, dem coolen, steinalten – also über 40-Jährigen – Wirt Wolfi und dem Gefühl der jugendlichen Freiheit, das Beck humorvoll vermittelte.


Heimatfindung war das Thema von Sebastian Beck. Foto: MF

Der Autor ist auch stets interessiert, was für andere Heimat ist. Bei seinen Fotoreisen durch Bayern traf er einen Flüchtling aus Sierra Leone, der sich, so er ein paar Euro übrig hat, an den Stammtisch im Nördlinger Sixenbräu setzt. Besonders die Wärme des Kachelofens vermittelt ihm ein Idee von Heimat. Ein Afghane empfindet Rothenburg ob der Tauber als seine neue Heimat und freut sich, dass er einfach mit Beck im Café sein kann. „In Afghanistan könnten wir hier nicht sitzen, da wären wir tot.“

Heimweh in direkter Nähe kann aber auch vorkommen, etwa bei einer Tölzer Bäuerin, die auf dem wunderschönen Aussichtspunkt in Röthenrain etwas traurig Richtung eines Hofes im zwei Kilometer Luftlinie entfernten Fischbach schaut. Von da kam sie vor 40 Jahren auf das Anwesen ihres Mannes und ist von Heimweh geplagt. „Aber des is ja gar ned weit weg,“ erklärt ihr Beck und erhält die Antwort „ja mei, Hoamat is hoid Hoamat“.


Mal lauschig, mal lebhaft umrahmten (r.) Anschi Hacklinger und Marion Dimbath die Lesung musikalisch. Foto: MF

Lockere Musik von der getragen-ruhigen „Abendstille“ zum besten Kaiserschmarrn

Zu diesen und weiteren interessanten Anekdoten und Geschichten war bei der Lesung bei den Weyarner Kleinkunsttagen auch eine hörenswerte musikalische Umrahmung geboten. Anschi Hacklinger (Klavier, Komposition) und Marion Dimbath (Tuba, Posaune) hatten die Instrumentalstücke als „schmalzig bis skurril“ angekündigt. Dabei spielten sie sich locker und virtuos durch den Streit um den besten Kaiserschmarrn, eine Abendstimmung oder einen „total kitschigen Walzer“.

Zum Weiterlesen: Endlich wieder „Zeitlang“ in Weyarn

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