Unter dem Steinernen Meer

Schicksale im Böhmerwald

Unter dem Steinernen Meer, Cover.

Neuerscheinung auf dem Buchmarkt

In seinem neuen Roman „Unter dem Steinernen Meer“ blickt mit dem Literaturhistoriker Peter Becher ein ausgewiesener Kenner der Geschichte und Lebenswirklichkeit von Deutschen und Tschechen im 20. Jahrhundert auf das Dreiländereck Österreich-Tschechien-Deutschland.

Ist sein Buch ein Familienroman, eine Erzählung von Freundschaft und Misstrauen, ein Reise- und Wanderratgeber, eine literarische Verknüpfung von Politik und Zeitgeschichte mit schicksalhaften persönlichen Begegnungen, Verstrickungen und Verdrängungsmechanismen?

All das und noch viel mehr beinhaltet das kürzlich im Vitalis-Verlag erschienene Buch des Holzkirchner Autors. Als deutsch-tschechischen Roman bezeichnet der promovierte Germanist und Vorsitzende der Adalbert-Stifter-Gesellschaft seinen Band. Als literarisches Gesamtkunstwerk verwebt Peter Becher Einzelschicksale zur Zeit des Nationalsozialismus und 2. Weltkriegs bis Anfang der 90er Jahre mit der großen Politik. Dabei setzt er seinen Protagonisten, den deutschen Arzt Karl Tomaschek und dessen tschechischen Jugendfreund, den Ingenieur Jan Hadrava in zahlreichen Rückblenden und Erinnerungen in Beziehung zu den verhängnisvollen Zeitläuften, die geprägt waren von gegenseitigen Verletzungen und Vertreibungen. Dabei entwirft Peter Becher ein spannendes Bild von Ost und West.

Ein Toter auf der Terrasse

Unerwarteter Schneefall beschert dem Hüttenwirt des Steirischen Jockl am ersten Mai 1991 eine unsichere Rutschpartie hinauf zu seiner Wirtschaft auf über 1.400 Metern Höhe. Seine Frau hatte ihn gedrängt, doch einmal nachzuschauen und so hatte er sich eher widerwillig ins Auto gesetzt. Groß war der Schrecken, als er auf der Terrasse seines Gasthauses eine erfrorene Person entdeckte. Der Tote konnte mangels Papiere erst nach einiger Zeit identifiziert werden. Danach wird allerdings schnell klar, dass Karl Tomaschek im Weizer Familiengrab beigesetzt werden wollte. Und so mussten sich die beiden Söhne auf den Weg in Richtung Steiermark machen, Thomas aus Wien und Andreas mit der Mutter aus München. Auf der Fahrt erinnern sie sich an ihre sehr unterschiedlichen Erlebnisse und Erfahrungen mit ihrem Vater, die jeden auf seine Weise prägten.


Peter Becher. Foto: privat

Für Thomas, den Unverstandenen, Linken, den Protestierenden, wurden die täglichen Spannungen und heftigen Streitereien mit seinem Vater immer unerträglicher. So mied er schon bald den Kontakt mit ihm und setzte sich ab. Eindringlich und intensiv beschreibt Peter Becher die Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn, bringt Rede und Gegenrede grandios auf den Punkt. „Soldatische Tugenden, die Zähne zusammenbeißen, das bereitet auf das Leben vor.“ Thomas seziert in Gedanken das lange zurückliegende Gespräch. „Du Friedensapostel“ hatte ihn der Vater ironisch und mitleidlos genannt. Peter Becher gelingt es auf wenigen Seiten Diskussionen der frühen 70er Jahre plastisch vor Augen zu führen. Bei der Leserin werden Erinnerungen wach.

„Jetzt fahren wir heim“ hatte die Mutter gesagt, nachdem sie zu Andreas in den Wagen gestiegen war. „Heimfahren, das war ein Wort, das in der Stimme seiner Mutter lebte, nirgendwo sonst, weich und geheimnisvoll“, so beschreibt der Autor in zarten Worten Gefühle und Empfindungen aus vergangenen Zeiten. Zeiten, die für Andreas Wehmut und Wagnis zugleich bedeuteten und Mutter und Sohn fast schweigend während ihrer Fahrt in die frühere Heimat begleiteten.

Auch Andreas hing seinen Gedanken nach. Er erinnerte sich daran, dass Heimfahren immer mit Österreich verbunden war, in die Steiermark, nicht nach Böhmen, nicht in den Böhmerwald. Begriffe wie Krieg und Vertreibung blitzten kurz in Andreas auf. Hatte man den Vater als Schüler verstanden oder verstehen wollen, wenn er davon sprach? Dabei hatte er nie von seiner eigentlichen Heimat erzählen wollen, die jahrzehntelang hinter dem Eisernen Vorhang verborgen war. Lieber hatte er von sich und seinen Vorfahren als „Wandervögel“ gesprochen, von Sommerlagern und Fahrten zu den Karpaten und zum Heiligen Berg Athos geschwärmt. Den Söhnen hatte er alte Lieder vorgesungen.

Wanderung in die Vergangenheit zweier alter Freunde

Großen Raum nimmt in Peter Bechers Roman die Erinnerung an vergangene Zeiten ein. Im Kapitel „Wanderung in die Vergangenheit“ spannt einen weiten Bogen im Leben des Karl Tomaschek und seines Jugendfreundes Jan Hadrava. Peter Becher beschreibt dezidiert und mit großer Empathie die gemeinsamen Schulerlebnisse im Gymnasium in Budweis in den 30er Jahren zur Zeit des aufkeimenden Nationalsozialismus mit dem Höhepunkt einer Berlinreise zu den Olympischen Spielen.

Er berichtet in geschickt eingestreuten Rückblenden über erste Liebeleien zwischen Tschechen und Deutschen, die tragische erste Liebe zu einer jüdischen Mitschülerin und das erschreckend schnell entstehende Misstrauen und Unverständnis zwischen den Freunden. Am Ende steht im Mai 1945 der Bruch zwischen Freunden und Völkern, der mehr als 40 Jahre währt und zwei gegensätzliche politische und gesellschaftliche Systeme hervorgebracht hat. Leidvoll und machtlos müssen sie die Menschen erleben. Freundschaft und Gemeinschaft sind auf lange Zeit verloren.


Peter Becher im Literaturcafé von KulturVision mit Gerd Holzheimer und Martin Calsow. Foto: Selina Benda

Bei einem überraschenden, zufälligen Treffen von Karl und Jan im Jahr 1990 in einem böhmischen Gasthaus, das Karl bei seiner realen Wanderung durch die frühere Heimat aufsucht, geraten die beiden alten Freunde in eine stundenlange, nächtliche Auseinandersetzung. Hier prallen unterschiedliche Sichtweisen, Erinnerungen, Verdrängtes und individuell Verarbeitetes hart und unerbittlich aufeinander. Krieg und Vertreibung haben bei beiden Männern tiefe, fast irreparable Wunden geschlagen, die echtem Verzeihen entgegenstehen.

Peter Becher erzählt Zeit- und Lebensgeschichte spannend bis zur letzten Zeile. Fast atemlos verfolgt man die handelnden Personen und ihre Lebensschicksale in Zeiten von Nationalsozialismus, Krieg, kommunistischer Diktatur und westlicher Demokratie. Schweigen und Diskussionen, Wünsche und Ängste, Hoffnungen und Lebensentwürfe, die zunichte gemacht wurden und letztendlich wieder erstanden sind, beschreibt der Autor in meisterhafter Manier und lässt ein buntes Kaleidoskop des 20. Jahrhunderts vor den Augen erscheinen.

Immer wieder zitiert der Autor Adalbert Stifter, zu dessen 1877 errichtetem Denkmal am Plöckenstein sich auch Karl Tomaschek im Sommer 1990 aufmachte. Seit seiner Versetzung nach Oberplan, des Geburtsorts des böhmischen Dichters, führte Jan Hadrava Besucher durch das dortige Geburtshaus von Adalbert Stifter, den Elsa, die jüdische Jugendliebe von Karl so sehr verehrte. So schließt sich der Kreis „Unter dem Steinernen Meer“.

Der Roman „Unter dem Steinernen Meer“ von Peter Becher ist 2022 erschienen im Vitalis-Verlag, ISBN 978-3-89919-646-7.

Zum Weiterlesen: Prag ist nicht nur Franz Kafka

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