Näher mein Gott zu Dir?

Bringt Künstliche Intelligenz (KI) den Menschen näher zu Gott? Foto: pixabay

Über Künstliche Intelligenz und Religion, Teil 2

Während manch einer in Anbetracht der Weltlage an der Intelligenz der Menschheit zweifelt, führt die Künstliche Intelligenz (KI) ihren Siegeszug durch sämtliche Lebensbereiche fort. Ob Diagnosealgorithmen in der Medizin oder ChatGPT im Unterricht, die „Computer, die sich selbst programmieren“ (Pedro Domingos) erfüllen wertvolle und wichtige Aufgaben. Doch können sie auch für die Religion eine Rolle spielen? Fangen sie lediglich den Priestermangel auf oder stellen sie sogar eine Konkurrenz zur göttlichen Vernunft dar? In einer zweiteiligen Artikelserie gehen wir der Frage nach, welche Rolle KI für die Religion spielen kann. Im ersten Teil ging es dabei um Begriff, Geschichte und Funktion von KI, während hier, in Teil 2, nun konkrete Anwendungsszenarien betrachtet werden.

„Näher mein Gott zu Dir“ – mit Glasfaser?

„Näher mein Gott zu Dir“ ist ein bekannter Kirchenchoral, der oft bei Beerdigungen gesungen wird. Auch die Kapelle auf der Titanic spielte ihn kurz vor Untergang des Schiffes, so hatten mehrere Überlebende berichtet. Der Text des Chorals geht auf ein Gedicht der englischen Dichterin Sarah Flower Adams zurück. Es geht darin um die Himmelsleiter aus dem biblischen Buch Genesis. In Kapitel 28, Verse 11 und 12, träumt Jakob von einer Treppe, die Himmel und Erde verbindet und auf der Engel auf und ab gehen. Mit dieser Treppe könnte man nun näher zu Gott kommen, oder? Mit Blick auf die Verwendung von KI in der Religion wäre daher zu fragen, ob diese Himmelsleiter in Wirklichkeit aus Glasfaser ist und KI somit das Potential hat, zumindest gläubige Menschen näher an Gott zu bringen.


Ist Jakobs Himmelsleiter eine Glasfaserleitung? Foto: Andreas Wolkenstein/ChatGPT

Historisch-kritische Exegese

Mehrere Anwendungsszenarien von KI in der Religion lassen sich derzeit unterscheiden. Zunächst wird KI zunehmend in der theologischen Forschung genutzt. Vor allem die sogenannte historisch-kritische Exegese ist es, die KI produktiv einsetzt, um die geschichtliche Entwicklung der biblischen Texte und das Umfeld ihrer Entstehung zu verstehen. In einem Forschungsprojekt etwa gingen Wissenschaftler der Frage nach, ob die Große Jesajarolle – eine der Schriftrollen, die in Qumran am Toten Meer gefunden wurde und nahezu das ganze biblische Buch Jesaja enthält – von einem oder von mehreren Personen geschrieben wurde. Mit Hilfe eines Algorithmus fanden die Paleografen heraus, dass es zwei Personen waren. Dies werfe Licht auf die biblische Schriftkultur, so die Autoren der Studie. Die antiken Schreiber hätten versucht, den Stil ihrer Kollegen nachzuahmen. Solche und ähnliche Anwendungsszenarien lassen sich für eine Vielzahl an Schriften aus der gesamten Kirchengeschichte vorstellen. Schriften sind dabei nicht die einzige Art von Quellen, die KI analysieren kann: Überall, wo es um die historische Einordnung von Überresten geht und wo etwa Bilderkennung eine wichtige Rolle spielt, wird KI von Nutzen sein. Etwas anders gelagert ist der Einsatz von KI, wenn etwa Stimmungen im Internet erfasst werden. In einem Forschungsprojekt der Kölner Hochschule für Katholische Theologie analysierte eine KI 5,7 Millionen Post von Internetnutzern und fragte nach den dort genannten Themen. Ziel war es herauszufinden, wofür die Menschen Kirchen als hilfreich ansahen. Die Autoren um Elmar Nass kamen zu dem Schluss, dass sich Kirchen mehr um spirituelle Angelegenheiten kümmern sollten als bisher („Tor zur Transzendenz“). „Tun sie dies nicht und konzentrieren sie sich auf interne strukturelle Diskussionen, politische Erklärungen oder eine rein soziale Arbeit, werden sie als irrelevant wahrgenommen“, so das Fazit der Studie.

Virtueller Pastor

Bilderkennung und -analyse ist bei Weitem nicht die einzige Fähigkeit, mit der KI glänzt. Sogenannte Large Language Models (LLMs) haben die Fähigkeit, den Sinn von Texteingaben zu verstehen – also etwa eine Anfrage an den Chatbot ChatGPT -, und können zudem selbst Texte generieren. Sie antworten demnach auf Fragen, die man ihnen stellt. Und damit ist der Weg für eine Vielzahl an religiösen Einsatzmöglichkeiten geebnet. Wie das Beispiel von Pastoral Guide zeigt, kann ein solcher Bot als ein „virtueller Pastor“ agieren und „pastorale Anleitung für Personen biete[n], die spirituelle Unterstützung und Anleitung suchen“, wie es auf der Homepage des Bots heißt. In einem Selbstversuch hat der Autor dieser Zeilen „Pastoral Guide“ danach gefragt, ob man angesichts des Leidens in der Welt eher an der Linderung des Leids mitwirken oder sich in Gebet und Meditation zurückziehen sollte. Die Antwort fiel durchaus passabel, aber nicht sonderlich tiefgehend aus: „Entscheiden Sie sich also nicht für das eine oder das andere, sondern überlegen Sie, wie der Geist Sie dazu berufen kann, beides in Ihrer Berufung miteinander zu verbinden.“


Screenshot des religiösen Chatbots „Pastoral Guide“. Foto: Andreas Wolkenstein

Religiöses Angebot

Für die Anbieter religiöser Dienstleistungen hat der Pastor und Publizist Donald L. Hughes den Ratgeber „God created ChatGPT“ geschrieben, der Priester, Pastoren und andere in der Seelsorge tätigen Menschen dabei unterstützt, KI erfolgreich für die eigene Arbeit anzuwenden. Da geht es um das Stellen der richtigen Fragen an den Chatbot (sogenannte „prompts“) genauso wie darum, „die eigenen Predigten auf neue Höhen zu bringen“. Auch wird in dem Buch der „göttliche Wille“ hinter der Erfindung von ChatGPT dargelegt. Umfassender noch ist ein Projekt, das 2023 auf dem Evangelischen Kirchentag in Nürnberg präsentiert wurde: Der Wiener KI-Forscher und Theologe Jonas Simmerlein hat einen ganzen Gottesdienst mit Hilfe einer KI entwickelt und umgesetzt. Und in Luzern (Schweiz) konnten Glaubende im vergangenen Jahr direkten Kontakt mit einem KI-Jesus knüpfen. In einem Beichtstuhl installierten die Macher des Projektes „Deus in machina“ einen Bildschirm, auf dem das Konterfei einer Person dargestellt war, das Jesus ähneln soll. Auf dem angeschlossenen Computer lief ein Chatbot, mit dem die Besuchenden spirituelle Botschaften austauschen konnten.


Im Projekt „Deus in machina“ sprach ein KI-Jesus mit Besuchenden der Installation. Video: Immersive Realities Center

Bringt uns das näher zu Gott?

Beispiele für die Anwendung von KI in theologischer Forschung und Praxis gibt es jenseits der hier erwähnten noch viele mehr. Dabei zeigt sich immer wieder, dass der Nutzen solcher Anwendungen durchaus vielfältig ist. Es hat sicher nicht direkt Auswirkungen auf die Glaubenspraxis, wenn Forscher herausfinden, wie viele Schreiber an der Abfassung einer Schriftrolle beteiligt waren (siehe oben). Zu wissen aber, dass Menschen große Mühen auf sich genommen haben, um Kopien „heiliger“ Texte anzufertigen, dürfte glaubenden Menschen durchaus etwas von der Ehrfurcht nahe bringen, mit denen frühere Generationen ihrer Religion und den materiellen Aspekten begegnet sind. In der Theologie gibt es unterschiedliche Meinungen dazu, wie mit der historisch-kritischen Exegese umzugehen ist. Diese Art des Umgangs mit einer „heiligen Schrift“ verortet religiöse Schriften in ihrem historischen Umfeld. Hier geht es in erster Linie weniger um Theologie und Glaube, sondern um Literaturwissenschaft, Geschichte und Naturwissenschaft. Doch ein solcher „ungläubiger“ Blick kann auf den heute Glaubenden rückwirken, etwa wenn Religion dadurch einen Ort „in der Welt“ und nicht nur im „Reich Gottes“ erhält.

Der Anfang der Erkenntnis

Auch die Verwendung von KI zur Erstellung von Predigten oder gar Gottesdiensten hat seine Berechtigung. Ist es für Glaubende nicht besser, spirituelle Unterstützung und eine gute Predigt zu erhalten, die von KI erstellt wurde, als gar keine solchen religiösen Feiern? Wenn die Zahl der Priester zurückgeht und nicht mehr an jedem Ort an jedem Sonntag Gottesdienst gehalten werden kann oder wenn Menschen keine Möglichkeit haben, an weit entfernte Orte zu reisen, um dort einen Gottesdienst zu besuchen – sind sie dann nicht besser versorgt mit KI als ohne jegliches religiöses Angebot? Und wer Angebote wie „Pastoral GPT“ verwendet wird sicher nicht wirklich Kontakt mit dem Divinen erhalten. Aber vielleicht wirkt das Angebot auch hier „indirekt“: In der Auseinandersetzung mit den Botschaften, so wenig tiefgehend sie sein mögen, kann ja der Keim für eine wirkliche spirituelle Einsicht liegen. Zudem gilt in der Benutzung von religiösen Chatbots dasselbe wie bei nicht-religiösen: Je besser der Input ist („prompt“), desto zufriedenstellender ist auch das Ergebnis. Und das bedeutet, dass man sich schon vor der Benutzung dieser Tools gut mit dem beschäftigen muss, was man fragen möchte. Liegt darin nicht der Anfang jeglicher Erkenntnis, auch ganz ohne KI?

Umsichtig, nicht bedenkenlos

KI ist ein Werkzeug, das wichtige Aufgaben erfüllen, Lücken schließen und Möglichkeiten eröffnen kann. Es darf aber nicht bedenkenlos verwendet werden. Dieses Urteil liegt nicht nur darin begründet, dass KI Fehler machen kann. Bedenkenlos sollte man auch deswegen nicht sein, weil man immer den Zweck der Nutzung und auch die Reichweite der Ergebnisse vorab bedenken sollte. Tut man dies, dann zeigt sich: Näher an Gott bringt uns KI nicht schon dadurch, dass es sie gibt. Man muss sie vielmehr umsichtig nutzen, dann zeigen sich die Früchte auf indirekte Weise. Aber die Mahnung zur Vorsicht gilt ja nicht minder für Jakobs Himmelsleiter: Auch hier ist ein vorsichtiges Besteigen, Stufe um Stufe, nötig. Sonst droht der Absturz.

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