
Kunst schafft Gemeinschaft
Unser Autor schlägt vor, in Gemeinschaft Bilder intuitiv zu betrachten, etwa das Bücherstillleben eines Leidener Meisters (um 1628, Alte Pinakothek). Foto: Andreas Wolkenstein
Gedanken zu Weihnachten
In der Weihnachtszeit kommen viele Menschen zur Ruhe: Nach stressigen Wochen des Jahresendspurts bietet sich ab Heiligabend Zeit und Gelegenheit, das zu tun, was man immer schon machen wollte. Unser Autor hat sich vorgenommen, Kunst mit Kindern zu gestalten. Inspiration dazu erhielt er vor wenigen Wochen bei einem Kunsttag mit seiner Familie.
Gemeinsam Kunst schaffen
„S´werd scho wieda ruhiga werd´n, wenn de staade Zeit vorbei is´“, so formulierte es dereinst der bayerische Nationalhumorist Karl Valentin. Will sagen: Wenn erst der angeblich so besinnliche Advent vorbei ist, dann wird’s auch wieder ruhiger. Und in der Tat ist es ja so, dass in den Wochen vor Heiligabend gleich so viel zu tun ist, dass der Stressabfall an den Weihnachtstagen regelmäßig zu familiären Spannungen führt. Das Internet ist voll von Memes, die das Übermaß an weihnachtlichem Zusammensein auf die Schippe nehmen und den Streit thematisieren, der so sicher scheint wie der Besuch der Heiligen Drei Könige im Stall von Bethlehem. Doch es geht auch anders: Wie wäre es zum Beispiel damit, in und mit der Familie gemeinsam Kunst zu machen?
Ein Sonntag voller Kunst
Wir haben das vor nicht allzu langer Zeit selbst ausprobiert. Nicht, dass es nötig gewesen wäre. Denn was unser Familienleben auszeichnet ist, dass wir gerade dann gemeinsam aufblühen, wenn wir viel Zeit miteinander verbringen. Daher gilt das Rezept, das ich hier vorstellen möchte, auch unabhängig von Hochstressphasen wie weihnachtlichen Familienessen. Es ist vielmehr ein Ratschlag dafür, über Kunst Gemeinschaft zu schaffen. Und das kann, diese kühne These würde ich wagen wollen, ausschließlich positive Effekte zeitigen. Worum also geht es? Um einen herbstlichen Sonntag voller Kunst.
Bilder intuitiv erfassen
Dieser Sonntag war regnerisch und ohne jede Chance auf gutes Wetter. Ein Ausflug in die Berge kam eher nicht in Frage, allenfalls der Hund wollte seine morgendliche Runde gehen. Zurück von dieser packten wir uns warm ein und allsdann ins Auto, um die Alte Pinakothek in München anzusteuern. Die Kinder freilich waren nicht bedingungslos begeistert, doch mit ein bisschen Standhaftigkeit war auch das anfängliche Murren schnell aus dem Weg geräumt. Die Ausstellung selbst war grandios. Kunsthistorische Fachkenntnisse sind bei uns nur laienhaft ausgebildet, aber darum sollte es an diesem Tag nicht gehen. Denn wir wollten die Bilder intuitiv erfassen: Was sehen wir alles auf dem Gemälde? Wie ist der Blick der abgebildeten Person zu deuten? Gefällt dem Papa dieses Werk wohl so gut, weil da ein Mann mit stattlichem Bart abgebildet ist? Ach ja, und dieses Stilleben, das erinnert doch stark an den heimischen Schreibtisch, oder? Ohne Weiteres vergehen schnell zwei Stunden und die öden, alten Bilder erhalten auf einmal eine Verbindung zum eigenen Leben. Doch nach zwei Stunden geht auch dem intuitivsten Zugang die Luft aus, der Hunger meldet sich.

In der Alten Pinakothek in München sind derzeit auch Werke zu sehen, die normalerweise in der Neuen Pinakothek zuhause sind, wie hier Claude Monets „Seerosen“ (um 1915). Foto: Andreas Wolkenstein
Kopf und Herz gefüllt
Also wird schnell die nächste Bäckerei gesucht und der Hunger gestillt. Bei Kaffee, Kuchen und ein paar belegten Semmeln bereiten wir den nächsten Schritt vor: Es geht nach Otterfing, wo die Kunstausstellung der Otterfinger Kulturwoche eröffnet wird. Da ist freilich kein Alter Meister zu sehen, dafür aber gelebte Kunst. Und über die lässt sich wunderbar diskutieren. Hier faszinieren die Farben, dort wird eine politische Botschaft deutlich. Und immer steht ein konkreter Mensch dahinter, ein Mensch, der etwas ausdrücken möchte, der sich Gedanken macht, der seine Zeit „im Flow“ des kreativen Schaffens verbringt. Faszinierend, für die Kinder aber auch schnell ermüdend, weil Kopf und Herz ja schon gefüllt ist mit Kunst (und in den Beinen einige Kilometer stecken).

Auch bei der Kunstausstellung der Otterfinger Kulturwoche gibt es Seerosen zu sehen, hier auf „Seerosenteich“ von Christoph Peklo. Foto: Andreas Wolkenstein
Geteilte Kreativität
Noch ist dieser Tag nicht zwingend ein Beispiel dafür, wie Kunst Gemeinschaft stiften kann, auch wenn die Erfahrung des gemeinsamen Betrachtens natürlich bereits intrinsisch wertvoll ist. Was an diesem regnerischen Sonntag dann aber folgte, zeigt die besondere Kraft der Kunst. Denn abends, nachdem wir alle zuhause angekommen waren, setzen wir uns an den Esstisch und wurden selbst kreativ. Jeder wählte Form und Material aus, die er und sie für sich als passend empfand. Die nächsten 45 Minuten wollten wir uns dann, jede und jeder für sich, mit der gewählten Kunstform beschäftigen. Ich versuchte mich ans Zeichnen, was eine nicht zu unterschätzende Herausforderung darstellte. Schließlich bin ich davon überzeugt, das kreative Können eines Kindergartenkindes nicht überschritten zu haben. Das ist auch so – doch in den Minuten kreativen Flows, die jetzt folgten, entdeckte ich eine Welt, die mir bisher verborgen war. Zeichnen kann man nicht einfach, sondern man erarbeitet es sich. Man arbeitet dabei an sich und mit sich, man schult den Blick, die Übertragung auf die Hand, man lernt Scheitern und Neuanfangen, bis schließlich etwas besonderes entsteht. Das ist weit weg von den Alten Meistern, weit weg von den Otterfinger Künstlern, aber es es ist meins. Jeder von uns zeigte den anderen, was er geschaffen hatte. Und genau dieser Moment ist es, von dem ich bis heute zehre. Ein Moment voller geteilter Emotion und Kreativität. Ein Moment, den ich allen Menschen wünsche.

Kreativ sein und diese gemeinsam wertschätzend betrachten: Ein Rezept auch, aber nicht nur für die Weihnachtszeit. Foto: Andreas Wolkenstein
Wertschätzendes Betrachten
Freilich, dieser Moment entsteht nicht einfach so, er ist abhängig von vielen passenden Rahmenbedingungen. Aber ich glaube, durch das Betrachten und das Schaffen von Kunst können solche Rahmenbedingungen hergestellt werden. Es ist eben das Zusammenspiel von passivem Wirkenlassen, aktivem Schauen und kreativem Tun, das Sinn und Bedeutung schafft. Dabei kommt es nicht auf die Kunstform an: Gemeinsam Musikmachen kann diesen Moment ebenso herstellen wie gemeinsames Zeichnen, vorausgesetzt, alle Beteiligten dürfen selbstbestimmt auswählen, wie genau sie sich kreativ ausleben wollen. Und es bedarf eines gemeinsamen wertschätzenden Betrachtens der Ergebnisse. Diese Wertschätzung hat nichts mit einer Bewertung zu tun. Vielmehr hebt sie ab auf die in uns allen schlummernde Fähigkeit, Sinn und Bedeutung zu schaffen auch jenseits aller Verwertbarkeit und aller Bewertungsmaßstäbe. Und sie hebt darauf ab, dass wir alle diese Fähigkeit teilen – und hierin liegt der tiefere Grund dafür, dass durch Kunst Gemeinschaft geschaffen wird. Ein Rezept nicht nur, aber auch für die ruhige Zeit nach der verdammt staaden Adventszeit.
