Dialog der Generationen – Der 6. Warngauer Dialog
„Dialog der Generationen“: Claudia Wenzel (l.i.B.), Christian Selbherr (mittig) und Hannah Sergel (r.i.B.). (Foto: Petra Kurbjuhn)
Warngauer Dialog
Im Warngauer Altwirtsaal kamen am 20. November drei Generationen miteinander ins Gespräch: Die prominente Schauspielerin Claudia Wenzel, Christian Selbherr, Redakteur bei missio München, und die Zwölftklässlerin Hannah Sergel vom Gymnasium Miesbach. Diskutiert wurde zum Thema „Ost und West“ – sowie über den Klimawandel und die Gender-Frage.
Wer die Aktionen von KulturVision e.V. aufmerksam verfolgt, dem wird nicht entgangen sein, dass in diesem Jahr ein besonderer Fokus darauf gelegt wurde, unterschiedliche Generationen miteinander ins Gespräch zu bringen: Bereits im Juli fand erstmals ein Erzählcafé zum Thema „Dialog der Generationen“ statt, die 42. Ausgabe der KulturBegegnungen trug den Titel „Generationen“ und brachte ein großes Interview mit einer Drei-Generationen-Familie heraus. Auch der diesjährige Warngauer Dialog stand im Zeichen des generationsübergreifenden Dialogs: Besonderes Augenmerk galt dabei den unterschiedlichen Perspektiven auf die deutsch-deutsche Geschichte.
Es muss von beiden Seiten kommen
Nach einem musikalischen Auftakt des Pianisten Tobias Stork weist die Moderatorin des Abends Dr. Monika Ziegler, 1. Vorsitzende von KulturVision e.V., die Teilnehmenden zunächst darauf hin, dass sie – wie üblich bei dieser Veranstaltungsreihe – fünf Minuten Zeit hätten, sich in einem persönlichen Statement zum Thema zu äußern. Die in der DDR aufgewachsene Schauspielerin Claudia Wenzel, deren jüngst erschienene Autobiografie „Mein Herz ließ sich nicht teilen“ bereits auf der Spiegel-Bestsellerliste steht, macht den Anfang und kommt sogleich auf ihre „Herzens“-Angelegenheit zu sprechen: Der Erhalt der Demokratie.
Die letzten 35 Jahre in der BRD hätten sie gelehrt, „was Demokratie für ein wunderbares Gut ist“, und sie wagt die Behauptung, dass jene, die Ähnliches wie sie selbst erlebt haben – sie bezeichnet die DDR ohne jegliche nostalgische Beschönigung als „Unrechtstaat“ und Diktatur – den Wert dieser freiheitlichen Staatsform vielleicht mehr zu schätzen wüssten. „Ihr müsst für die Demokratie kämpfen“, pflege sie deshalb als Zeitzeugin in Schulen zu sagen. Den etablierten demokratischen Parteien wirft sie vor, durch Versäumnisse vielfältiger Art eine große Mitschuld an der Erstarkung rechts- wie linksextremer Positionen im Land zu tragen.
Die Schauspielerin Claudia Wenzel. (Foto: Petra Kurbjuhn)
Christian Selbherr, Redakteur und Journalist beim Internationalen Katholischen Missionswerk missio München und nebenberuflich passionierter Bühnendarsteller, ist im Westen aufgewachsen und war 11 Jahre alt, als die Mauer fiel. Seine Erfahrungsberichte aus der DDR hat er nicht aus erster Hand, sondern von einem seiner Kollegen, der ihm auf gemeinsamen beruflichen Reisen durch Afrika und Asien von dessen Kindheit und Jugend in Ostdeutschland erzählte. Ein solches offenes Ohr für andere Perspektiven sei nötiger denn je, da in der heutigen Diskussionskultur, merkt Selbherr kritisch an, „immer alle gleich Bescheid wissen“, anstatt eine Sache erstmal „von der ein oder anderen Seite zu betrachten“. Sich eine Meinung zu bilden, ist Arbeit, eine Meinung zu haben, setzt dagegen nicht unbedingt Arbeit voraus.
Der Journalist Christian Selbherr. (Foto: Petra Kurbjuhn)
Hannah Sergel, die wie ihre beiden Vorredner ebenfalls theaterbegeistert ist und zudem als Judo-Trainerin arbeitet, wurde lange nach der Wende geboren. Sie berichtet, wie sie im Vorhinein von den Veranstalterinnen gefragt worden sei, was sie an der älteren Generation nervt, und dass sie, auch nach längerem Nachdenken, keine Antwort darauf gehabt hätte. Denn stets habe sie zu einem Beispiel aus der älteren Generation sogleich ein Gegenbeispiel aus ihrer eigenen Generation gefunden.
So kommt sie zu dem Schluss, der vielen Menschen, ganz gleich welcher Generation sie angehören, ein Vorbild sein sollte: „Ich möchte nicht generalisieren.“ Eben deshalb habe sie ein Problem mit sämtlichen Formen von Pauschalisierung, insbesondere solchen, die mit „Die Jugend von heute“ anfangen. Sie persönlich ist der Überzeugung, von den älteren Generationen viel lernen zu können, jedoch müsse diese Bereitschaft „von beiden Seiten kommen“. Mit unterschiedlichen Erfahrungen, zuweilen auch trotz unterschiedlicher Erfahrungen, „auf einen Nenner zu kommen“, das sei eine generationsübergreifende Aufgabe.
Die Jüngste in der Runde: Schülerin Hannah Sergel. (Foto: Petra Kurbjuhn)
Wo ist das hergekommen?
Nach den einzelnen Statements nimmt das gemeinsame Gespräch sogleich Fahrt auf: Claudia Wenzel erzählt eindrücklich von ihrem „Schockerlebnis“ als sie nach Jahren in der DDR plötzlich in den Westen kam: „Da ist mein Weltbild zusammengeklappt.“ Das nachzuvollziehen für nachfolgende Generationen sei sicherlich schwer, müsse aber ins Gedächtnis gebracht werden, damit „man stolz darauf sein kann“, in einem geeinten, d.h. wiedervereinten Land zu leben.
Die ehemalige DDR-Bürgerin möchte von Hannah Sergel wissen, was sie in der Schule über die DDR erfahren habe: Im Geschichtsunterricht sei sowohl die politische Situation im Allgemeinen als auch der Lebensstandard der DDR-Bürger im Speziellen untersucht worden. Die Frage entsteht, ob man nicht mehr über den konkreten Alltag der Menschen erfahren müsste, um die damalige Lebenssituation vorstellbar(er) zu machen, damit sich die dunklen Kapitel der Geschichte nicht wiederholten. Zum Beispiel Erfahrungsberichte über die damals übliche „Doppelmoral“ (Wenzel) desjenigen, was man öffentlich sagen durfte und was besser nicht. Darüber, was es mit Menschen auf Dauer macht, wenn eine sogenannte „Staatssicherheit“ das soziale System mürbe macht.
Claudia Wenzel erzählt von ihren Erlebnissen in der DDR. (Foto: Sepp Fuchs)
Aufgrund derartiger Erfahrungen würden „die Ossis immer auf die Straße gehen“ (Wenzel); weil ihnen ebendies lange verwehrt war. Christian Selbherr hakt ein, dass ihm bei öffentlichem Protest heutzutage oftmals die Wertschätzung für diese Regierungsform fehle, die Protest überhaupt erst zulasse: „In Afrika geht man nicht auf die Straße, da landest du direkt im Gefängnis.“ Auch Wenzel räumt ein, dass ihr besonders in den letzten Jahren der Respekt gegenüber Politikern fehle, etwa wenn auf Plakaten gefordert werde, dass jemand gehängt werden solle. „Wo ist das hergekommen?“, fragt sie – und die Frage steht noch lange im Raum.
Nicht immer gleich Krieg
Während der Anfang des Gesprächs noch in harmonischer Einmütigkeit abläuft, offenbaren sich im weiteren Gesprächsverlauf schließlich doch ein paar herbere Meinungsverschiedenheiten. Etwa als Claudia Wenzel den gängigen Vorwurf in puncto Klimawandel zitiert, der sich von der jüngeren an die ältere Generation richtet („Ihr habt ja den Planeten versaut!“). Da gibt sie allerdings umgehend selbstkritisch zu, dass sie hart gegenüber denen werde, die hart zu ihr sind. Hannah Sergel jedoch sieht gar keinen Sinn darin, irgendjemandem die Schuld zuzuweisen. Vielmehr verteidigt sie die ältere Generation noch dahingehend, dass das Klimathema ja damals auch weniger in jedermanns Bewusstsein gewesen sei. Wobei Christian Selbherr zurecht darauf hinweist, dass es auch früher schon Umweltbewegungen gegeben habe und dies nicht allein eine Errungenschaft der heutigen Zeit sei. Die drei sind sich jedenfalls einig, dass man sich nur gemeinsam diesem universellen Problem annehmen kann und muss.
An anderer Stelle kommt es noch zu einer wahrhaft hitzigen Diskussion, als Claudia Wenzel erwähnt, dass sie „Gendern konsequent ablehnt“. Sofort erwidert Hannah Sergel: „Wo ist denn das Problem? Sprache wandelt sich.“ Wandel gehöre dazu, „so funktioniert die Welt“, und die Gleichberechtigung von Mann und Frau sei insbesondere in der Arbeitswelt noch nicht etabliert genug, um eine solche Gleichberechtigung konstituierende „fundamentale Sache, die sich durch Sprache ausdrückt“ (Sergel) aufzugeben. „Ich bin aber total dagegen“, beharrt Claudia Wenzel in Bezug auf die Gender-Debatte.
Claudia Wenzel singt ein Lied („Laßt uns verweilen diese Stunden“) aus der Feder ihres Bruders, dem berühmten Liedermacher Hans-Eckhardt Wenzel, genannt „der Wenzel“. (Foto: Sepp Fuchs)
Man befürchtet schon, es mit sich verhärtenden Fronten zu tun zu haben, da kommt dem Mann, der die „mittlere“ Generation zwischen Ü60 und U20 vertritt, im Gespräch eine Mittlerposition zu: Selbherr gibt zu bedenken, warum es denn immer gleich extreme Positionen geben müsse. „Sprache hält das doch aus, diese Unterschiede.“ Unterschiede auszuhalten, das sei eine große Aufgabe in vielen Bereichen der Gesellschaft, nicht allein in Gender-Fragen. „Es muss doch nicht immer gleich Krieg draus werden“, sagt er, und spricht damit einen großen Satz aus.
Und tatsächlich findet sich später im Gespräch eine mögliche Erklärung für diese unterschiedliche Perspektive der beiden Podiumsteilnehmerinnen: Gerade in Bezug auf die Arbeitswelt seien Frauen im Osten nämlich in gewissem Sinne gleichberechtigter gewesen als im Westen: „Frauen waren in jedem Arbeitsbereich präsent, Hausfrauen kannte ich nicht, die waren alle am arbeiten“, gibt Claudia Wenzel den prägenden Eindruck ihrer Jugend wieder. Somit erklärt sich vielleicht, warum das Gendern von ihr eher als sprachlicher Stolperstein, denn als eine gesellschaftliche Aufgabe aufgefasst wird. Manchmal muss man wohl nur ein wenig länger suchen in der Geschichte eines Menschen, um eine bestimmte Meinung in ihrer Tiefe verstehen zu können.
Nicht miterlebt, aber mitbekommen
Der zweite Teil der Veranstaltung, nach der Pause, beginnt mit einer kurzen Lesung aus Claudia Wenzels Autobiografie, wo sie in dem Text „Wünsche zum 35. Jahrestag“ schreibt: „Die nächste Generation kennt unser Leben ja nur noch aus Erzählungen. Aber gegen das Vergessen und für unsere gemeinsame Zukunft sind diese Erinnerungen […] wichtig […].“ Die Lesung endet mit dem Lied „Leningrad“ (das auch im Buch abgedruckt ist), geschrieben von Hans-Eckardt Wenzel, dem Bruder der Schauspielerin, deren Gesang begleitet wird vom Klavierspiel Tobias Storks, über dessen Interpretation sie anschließend schwärmt: „Mein Bruder hätte seine Freude gehabt!“
Ein illustres Publikum beteiligt sich am Gespräch: Auch der berühmte Musiker „Zither-Manä“ (stehend, l.i.B.) meldet sich zu Wort. (Foto: Petra Kurbjuhn)
Im zweiten Teil des Abends hat nun das Publikum Gelegenheit, Fragen an die drei zu richten oder Kommentare zu dem bereits Gehörten abzugeben. Es kommt zu reger Beteiligung und zahlreichen Fragen und Anmerkungen, die ausführlich wiederzugeben zwar einen eigenen Artikel wert wären, von denen hier jedoch nur einige wenige wiedergegeben werden können. Zunächst richtet Claudia Wenzel eine Frage an das Publikum, nachdem sie ihr Bedauern bekundet hat, dass es damals noch geheißen habe, „es wächst zusammen, was zusammengehört“, aber: „In den letzten Jahren scheint es ja wieder auseinanderzuwachsen… Diese Ost-West-Mentalität muss weg – wie schaffen wir das?“ Ein Vorschlag aus dem Publikum kommt von einer Person, die selbst im Osten aufgewachsen ist: „Kann es sein, dass wir einen Anfang in der Sprache machen müssen, indem wir auf Begriffe wie Ossi und Wessi verzichten?“
„Du kommst ja aus dem Westen“, wird Hannah Sergel angesprochen, um ihre Meinung zu diesem Thema in Erfahrung zu bringen, doch sie fühlt sich damit nicht angesprochen: „Für mich ist das irrelevant, der Begriff des Westens kommt mir gar nicht in den Kopf. Ich fühle mich als Deutsche, als Europäerin, als Mitglied der Weltgemeinschaft.“ Das Publikum ist sichtlich beeindruckt, die Schülerin spricht weiter: „Es ist noch Arbeit da, klar, aber abgesehen davon ist es einfach ein Rauswachsen aus diesen Kategorien.“ Dagegen aber erhebt eine jüngere Person aus dem Publikum Einspruch; sie ist von ihrer Großmutter erzogen worden, welche wiederum in der DDR aufgewachsen ist: „Traumata werden auf die folgenden Generationen übertragen, deswegen ist das alles immer noch ein Thema und nicht einfach ein Rauswachsen. Solche Themen müssen verarbeitet werden, auch von anderen Generationen, die sie zwar nicht miterlebt, aber nichtsdestotrotz mitbekommen haben.“ Eine ungemein kluge Unterscheidung.
Ein geglückter Abend geht zu Ende: Tobias Storck, Monika Zieger, Claudia Wenzel, Christian Selbherr und Hannah Sergel. (Foto: Petra Kurbjuhn)
Zuletzt wird Hannah Sergel gefragt, ob es ein Grundgefühl gäbe, mit dem ihre Generation und sie persönlich auf die Zukunft blickt: „Ich fühl‘ mich sicher, weil ich ja nie unmittelbaren Krieg mitbekommen habe.“ Deshalb habe sie keine generelle Zukunftsangst, das seien eher akute Situationen, Momentaufnahmen. „Ich bin ein positiv eingestellter Mensch.“, sagt die Vertreterin einer Generation, der vonseiten der Medien allzu oft Zukunftsangst und Pessimismus attestiert wird.
Drei Resümees
Die anfangs angekündigte „Intervention“, sollte das Gespräch ins Stocken geraten, war vonseiten der Moderation Monika Ziegler kaum vonnöten, das Gespräch ging von selbst vonstatten – und ehe man sich’s versah, war es auch schon Zeit für das Schlussplädoyer der drei Teilnehmenden. Diesmal macht Hannah Sergel den Anfang mit ihrem Resümee und konstatiert, dass es schlicht und ergreifend eine „gute Idee“ sei, sich gegenseitig (Lebens-)Geschichten zu erzählen. Christian Selbherr betont, wie unentbehrlich es sei, dass solche Räume ermöglicht würden, wie KulturVision e.V. sie initiiert. Und er spricht die Hoffnung aus, dass Kunst und Kultur etwas sei, „was uns vielleicht vereinen“ könne.
Auch Claudia Wenzel kommt zu dem Schluss, wie wichtig es sei, für die Meinung anderer offen zu bleiben: „Wir müssen miteinander reden!“ Und als würde sie damit ihren theoretischen Standpunkt praktisch untermauern, verkündet sie zum Abschluss, sie wolle von nun an nicht mehr „Ossi“ und „Wessi“ sagen – und werde überdies ihre Einstellung zum Thema „Gendern“ überdenken: In Zukunft wolle sie der Generation, die mit diesem Thema anders aufwächst als sie selbst damals, gelassener begegnen.
Im Anschluss an die Veranstaltung gab es eine Signierstunde mit dem „Stargast“ Claudia Wenzel am Büchertisch der Schlierseer Buchhandlung „Bücheroase“, in der es noch signierte Exemplare zu kaufen gibt. (Foto: Petra Kurbjuhn)
Das letzte Wort hat die Moderatorin des Abends: Monika Ziegler lobt das „respektvolle Gespräch“ und zitiert eine Aussage des Theologen und Sozialethikers Prof. Marcus Vogt: Kunst und Kultur seien „politisch unterschätzte Ressourcen für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft“. Durch die ihnen innewohnenden Kräfte könnten sie „zu Aktivität mobilisieren“ (Vogt), insbesondere – so ergänzt Ziegler die Aussage des Theologen um ihre eigene Überzeugung – weil diese Kräfte auch die Gefühlsebene ansprechen.
Dass die Zukunft unserer Gesellschaft von einem gut geführten Gespräch ihrer Mitglieder abhängt, hat der Warngauer Dialog einmal mehr unter Beweis gestellt.