„Der andere Blick“ auf Hodler bis Cahn

Michael Beck vor Miriam Cahn „Ergeben“ und Pierre-Paul Girieud „Les Baigneuses“. Foto: IW

Ausstellung am Tegernsee

Mit der Sonderausstellung „Hodler, Dix, Kiefer, Cahn und weitere. Der andere Blick.“ aus der Sammlung Anna und Michael Haas gelingt dem Olaf Gulbransson Museum Tegernsee ein weiterer Quantensprung in die Liga großer Museen.

Absolut sehenswert, das soll gleich vorangestellt werden. Warum? Haben die vergangenen Ausstellungen schon davon überzeugt, dass sich Beachtliches im Olaf Gulbransson Museum getan hat, seit Galerist Michael Beck den Vorstand der Olaf Gulbransson Gesellschaft übernommen hat, ist diese Ausstellung noch eine Spur spektakulärer. Früher musste man extra in die Metropolen reisen, um sich Weltkunst anzuschauen. Das hat sich geändert – seit der Chagall-Ausstellung 2021 am Tegernsee. Seither hängt Michael Beck die Latte jedes Mal ein Stück höher.

Was meint dieser „andere Blick“?

Bereits der erste Teil des Titels, „Hodler, Dix, Kiefer, Cahn und weitere“, verweist auf das hochkarätige Niveau der Ausstellung. Er nimmt vorweg, dass es einen Zeitbogen der Weltkunst gibt und Gegenüberstellungen, verrät aber noch nicht ansatzweise, was die Besuchenden tatsächlich erwartet: Überraschung! Denn was wollen die Ausstellungsmacher, das Sammlerpaar Haas und die Olaf Gulbransson Gesellschaft, mit diesem „anderen Blick“ sagen? „Der erste Eindruck braucht oft den zweiten Blick, der den ersten bestätigt und relativiert“, heißt es im Ausstellungskatalog. Es geht also um die Art des Sehens: „Der andere Blick lässt sich überraschen und mitreißen.“

Sammlung Anna & Michael Haas: Der andere Blick - Olaf Gulbransson Museum
Historisch-christlichen Artefakte (Skulptur eines Teufels um 1720) im Dialog mit zeitgenössischer Spiritualität. Foto: IW

Frisch und unverstellt, voller Neugier und mit dem leidenschaftlichen Herz eines manischen Sammlers – Michael Haas hat mit seiner Frau Anna in den letzten vier Jahrzehnten Hunderte von Kunstwerken zusammengetragen. Dabei verfolgt der Kunsthändler und Sammler, der selbst auch Künstler ist, keinen bestimmten Zweck. Er kauft nichts hinzu, um etwas zu vervollständigen. Vielmehr hat er den „anderen Blick“ auf die Kunst und sammelt intuitiv und aus dem Bauch heraus. Hohe handwerkliche und künstlerische Qualität ist ihm wichtiger als „was angesagt ist“. Er lässt sich gern überraschen und sucht nach dem, was seine Fundstücke verbindet. 

Dialogisches Prinzip der Sammlung Haas

Die „Cross Collection“ zeigt etwa 70 Werke aus der Fundgrube der „Preziosen“, die Anna und Michael Haas auf diese Art vollkommen unorthodox zusammengetragen haben. Sie schlägt einen Bogen von unterschiedlichen Stilen, Epochen und Gattungen, Kunst und Kunsthandwerk. Sakrales neben Profanem, die Suche nach zeitgenössischer Spiritualität neben historisch-christlichen Artefakten. Abstraktion und Gegenständlichkeit gehen dabei Hand in Hand. Um die Sammlung zu verstehen, muss man weder künstlerisch noch kunsthandwerklich geschult sein, man muss lediglich Neugier mitbringen und Entdeckerlust, dem dialogischen Prinzip der Sammlung Haas zu folgen.

Auf welche Weise korrespondiert "Tango" (1983) von Mimmo Paladino mit der aus Holz geschnitzten Bischof-Figur aus dem 13. Jahrhundert aus Katalonien?
Auf welche Weise korrespondiert „Tango“ (1983) von Mimmo Paladino mit der aus Holz geschnitzten Bischof-Figur aus dem 13. Jahrhundert aus Katalonien? Foto: IW

Wirkten die Räume zuletzt bei der Olaf Gulbransson-Ausstellung in zurückhaltender Stille, fast Leere, ist jetzt das Gegenteil der Fall. Im Licht der neu installierten Lichterschienen öffnet sich eine Ausstellung, in der auf den ersten Blick die zahlreichen Skulpturen auffallen, die den Raum bevölkern und auch an den Wänden zwischen Bildern auf Sockeln angebracht sind. Locker, fast verspielt, farbig und rhythmisch – das ist der erste Eindruck der neuen Ausstellung, der sofort einlädt, den Blick hierhin und dorthin wandern zu lassen. Einlädt, beim Rundgang schließlich nach dem Verbindenden, dem oftmals verblüffenden Dialog zwischen den unterschiedlichen Werken zu suchen.

Lässt man sich auf den „anderen Blick“ ein, kann man viel entdecken – und auch Geheimnisse lüften. Exemplarisch ist gleich das erste Bild „Flagrant délit“, meisterlich gemalt von Eugène Buland im Jahr 1893. Es ist eines der ersten Bilder überhaupt, die nach einer Fotografie entstanden. Der Titel „in flagranti“ deutet auf eine delikate Situation hin. Bei welcher „Tat“ jedoch wer ertappt wurde, bleibt der Fantasie überlassen.

Wunderkammer der Kunst des 21. Jahrhunderts

„Wenn die Besucherinnen und Besucher beim Eintreten in die Räume den Einführungstext lesen, wird ihnen klar, warum wir die Ausstellung so und nicht anders konzipiert haben“, empfiehlt Michael Beck. Und dann? Sich darauf einlassen. Neugierig den ausgelegten Fährten für den „anderen Blick“ folgen, ihn selbst einnehmen: „Es ist eine Wunderkammer der Kunst des 21. Jahrhunderts, ein Ritt durch die westliche Kunstgeschichte.“ Von der Renaissance bis zur deutschen Popart, von Architekturmodellen aus dem 18. Jahrhundert bis zur Skulptur des Künstlers Joachim Elzmann aka Michael Haas, vor Ort im Olaf Gulbransson Museum für diese Ausstellung erschaffen: Eine raumhohe Säule aus Papier. Eine weitere Skulptur steht, gleich einem riesigen schwarzen Monolith, vor der Tür im Freien.

Werkpaare und Brüche

Bekanntes und Unbekanntes – neben Gemälden, Skulpturen und Arbeiten von international gefeierten Künstlern wie Anselm Kiefer, Georg Baselitz, Ferdinand Hodler, Otto Dix und Miriam Cahn werden auch Kunstwerke anderer Epochen gezeigt, deren Erschaffer heute weitestgehend in Vergessenheit geraten oder sogar unbekannt sind. Insgesamt schlägt die Ausstellung sogar einen Bogen von über 2.000 Jahren – beginnend mit einem Ton-Pferd aus der Han Dynastie, welches im Dialog mit dem „Pferdetorso“ von Lothar Fischer aus dem Jahr 1976 steht. Der „Engelssturz“ der zeitgenössischen Keramikerin Carolein Smitt korrespondiert mit der Teufelsgestalt aus dem frühen 18. Jahrhundert. Dem Bild „Der Eseltreiber“ von Brut Art Künstler Friedrich Schröder-Sonnenstern ist eine farbig gefasste Bischofsfigur aus dem 13. Jahrhundert gegenübergestellt.

Ein spannendes Paar bilden auch Lovis Corinths „Susanna im Bade“ von 1890 und Eric Fischls „Bathroom scene #3“ von 2004. Hier beobachtet ein Voyeur Susanna heimlich in ihrer Nacktheit, dort herrscht gleichgültige Routine zwischen Mann und Frau. Auch wenn die Bilder und Skulpturen oftmals paarweise präsentiert sind, bilden sie dennoch keine Einheit, sondern jedes Mal einen frappierenden Bruch.

Nelkenschiff, Kiefer und Nay
Über eine Zeitspanne von vielleicht 200 Jahren korrespondiert das „Nelkenschiff“ mit den Bildern an der Wand dahinter. Foto: IW

Das „Nelkenschiff“, eine kunsthandwerkliche Arbeit aus Gewürznelken, entstanden auf den Molukken im 18. Jahrhundert, wird von einem Bild Anselm Kiefers aus dem Jahr 2003 flankiert. „Hexen“ wirkt wie eine bizarr konstruierte Landschaft aus Meer und Felsenküste. Die Gruppe komplettiert das Bild „Fischer“ von Ernst Wilhelm Nay aus dem Jahr 1936. Schärft man den Blick in dieser Ausstellung, findet man immer mehr Analogien, die über eine Spanne von Jahrhunderten und Sujets greifen. Und was hat es mit dem über eine Million Jahre alten, riesigen Calcit auf sich?

Eigenen Blick schärfen

Neu ist außerdem, dass es keine Beschriftungen der Werke im Raum gibt. Das ist eine weitere Aufforderung an die Besucherinnen und Besucher, den eigenen Blick zu schärfen und auf die Kunstwerke zu fokussieren, statt auf Begleittexte. Die Ausstellungsgäste sollen die Werke zunächst auf sich wirken lassen, bevor sie in einem begleitenden Faltplan nachschlagen. Umso größer ist vielleicht die Freude, überrascht zu werden, die Sprünge zwischen den Dialogpaaren zu entdecken und das Verbindende darin zu finden. Gelingt das, ist man dem Verstehen der Art des Sammelns von Anna und Michael Haas ein Stück nähergekommen.

Aus der Sammlung Anna & Michael Haas: Ferdinand Hodler "Bildnis Clara Battié" (1916) und Ernst Ludwig Kirchner "Nachtfrau" (1928)
Ferdinand Hodler „Bildnis Clara Battié“ (1916) und Ernst Ludwig Kirchner „Nachtfrau“ (1928). Fotos: Olaf Gulbransson Gesellschaft e.V. Tegernsee 2023, Der andere Blick. Sammlung Anna und Michael Haas

Erneut konnte Michael Beck, seit 2020 Vorsitzender der Olaf Gulbransson Gesellschaft, seine Kontakte einbringen und eine ganz und gar ungewöhnliche Ausstellung auf Weltniveau an den Tegernsee holen. „Wir stimmen uns mit den Bayerischen Gemäldesammlungen ab, aber im Wesentlichen ist es unsere Ausstellung, die wir komplett selbst auf die Beine stellen“, erläutert er und ergänzt: „Ich war diesmal nur ‚Begleitung‘, gehängt hat die Werke Michael Haas.“

Macht sammeln glücklich? 

Der begleitende Katalog gibt Einblicke in das Leben und die Leidenschaft des Sammlerehepaars – in ihre Wohnung in Berlin, wo die Werke normalerweise ihren Platz haben. „Macht sammeln glücklich? Teil 2“ ist dann auch der Titel eines der begleitenden Face-to-Face-Gespräche mit Anna und Michael Haas über ihre international bekannte Sammlung.

Angefangen mit der Ausstellung „Marc Chagall. Eine Liebesgeschichte“, auf die „Von Renoir bis Jawlensky“ und darauf „Olaf Gulbransson. In Öl gezeichnet.“ folgten, ist dies nunmehr die vierte hochkarätige, internationale Ausstellung, die in Tegernsee zu sehen ist.

Die Ausstellung „Hodler, Dix, Kiefer, Cahn und weitere. Der andere Blick. Sammlung Anna und Michael Haas“ ist bis zum 21.01.2024 im Olaf Gulbransson Museum Tegernsee zu sehen. Auf der Webseite des Museums finden Sie auch das umfangreiche Begleitprogramm.

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