
Von Aleppo an den Tegernsee
Markus Bogner, Najd Boshi und Florian Burgmayer (v.l.). Foto: Monika Ziegler
Fastenpredigt in Holzkirchen
Auf der Fahrt nach Holzkirchen sei er 45 Minuten lang einem Regenbogen nachgefahren, sagt Markus Bogner zur Begrüßung. Das Naturphänomen stehe sinnbildlich für die Fastenpredigten: Geschichten, die Schatten- und Sonnenseiten haben, die vom Gelingen erzählen und Mut machen. In diesem Sinne wünschte er einen „regenbogenreichen Abend“ mit Rednerin Najd Boshi und Florian Burgmayr am Akkordeon.
Mut zu einem selbstbestimmten Leben
Mit 18 Jahren ändert sich für Najd Boshi alles auf einmal: Ihr Vater stirbt, als sie gerade das Abitur in der Tasche hat und studieren will. Auf die Mutter kann sie in diesem Fall nicht bauen. Najd Boshi übernimmt selbst Verantwortung für ihr Leben. Sie beginnt das Studium der englischen Literatur an der Universität in Aleppo, ihrer Heimatstadt. Um es zu finanzieren, arbeitet sie nebenbei in der Universitätsverwaltung. Sie lernt ihren Mann kennen, heiratet, eine Tochter wird geboren. Najd Boshi unterbricht das Studium, nimmt es wieder auf. Dann kommt das zweite Kind, ein Sohn, zur Welt. Wenige Monate später nimmt ihr Mann eine Stelle in Dubai an. Najd Boshi bleibt mit den Kindern in Aleppo zurück. Als der Familienvater nach zwei Jahren wieder zurückkommt, finden Vater und Mutter nicht mehr zueinander. Die Ehe wird 2010 geschieden. Die Kinder haben zu beiden Elternteilen einen guten Kontakt.
Najd Boshi erzählt in nahezu perfektem Deutsch. Foto: MZ
Krieg und Flucht
2011 bricht Krieg in Syrien aus, ab 2012 steht Aleppo unter Dauerbeschuss. Wer kann, flieht aus der zerbombten Stadt. Auch aus Najd Boshis Familie flieht einer nach dem anderen ins Ausland. Die Angst um die Kinder wird immer größer. Nach einer schweren Explosion direkt im Haus trifft Najd Boshi die Entscheidung: Sie ist überzeugt, dass es in Syrien lange keinen Frieden und kein Leben in Freiheit für sich und ihre Kinder geben wird. Das aber ist ihr Ziel: ein selbstbestimmtes Leben in Frieden, sich entwickeln können, nach vorne kommen. Deshalb nimmt sie den gefährlichen Weg der Flucht auf sich, Deutschland ist ihr Ziel, dort sind bereits eine Schwester und die Mutter. Die Kinder und der Vater, den sie erneut heiratet, sollen in der Zwischenzeit in Latakia bei den Großeltern bleiben.
Nadj Boshi verkauft ihre Wertgegenstände und alles Entbehrliche, um ausreichend Geld für die Flucht und die Bezahlung der Schleuser zu haben. Im September 2014 nimmt sie Abschied von ihren Kindern in der Hoffnung, dass sie wieder zusammenkommen. Mit einem einzigen Rucksack und der festen Überzeugung, dass sie die Verantwortung für die Familie übernehmen muss, bricht sie auf ins Ungewisse.
Najd Boshi und Florian Burgmayr. Foto: Annemarie Hagn
Dem Tod geweiht – und gerettet
In Istanbul wird sie Teil einer 42 Personen umfassenden Gruppe, die von den Schleusern auf einer menschenverlassenen Insel vor der Küste der Türkei ausgesetzt wird. Zwei Tage verharren sie dort ohne Essen und Wasser. Als sie erkennen, dass sie dem Tod geweiht sind, schreiben sie ihre Namen, den Wohnort und die Telefonnummer, die in Syrien zur Identifizierung dient, auf ihre Hosen. So könne man wenigstens die Angehörigen verständigen, wenn sie tot aufgefunden werden. Am dritten Tag hat eine Frau die Idee, die Insel anzuzünden, um auf die Ausgesetzten aufmerksam zu machen. Sie legen Feuer und tatsächlich kommt bald Rettung in Form der türkischen Grenzpolizei. Alle 42 Personen werden zurück in die Türkei gebracht, sie nächtigen im Garten eines Gefängnisses. Die meisten Geflüchteten geben auf und werden am nächsten Tag zurück nach Syrien geschickt. Für Najd Boshi steht es außer Frage, dass sie weiterziehen möchte. Sie findet erneut einen Schleuser. Er vermittelt der nunmehr acht-köpfigen Gruppe nach tagelangem Warten einen Flug auf die griechische Insel Kos. Von dort geht es über Athen nach Italien und schließlich nach München.
Florian Burgmayer geht mit seinen Eigenkompositionen in Resonanz zu der Geschichte. Foto: MZ
Komponist und Musikus Florian Burgmayr, der bereits zum Auftakt gespielt hatte, griff auch an dieser Stelle der Geschichte zum Akkordeon. Er hatte zu der bewegenden Geschichte Eigenkompositionen ausgewählt, die in Resonanz zu dem Gesagten traten und zum Verdauen der Ereignisse beitrugen, ganz zauberhafte, leise wohltuende Melodien, melancholisch, aber nicht traurig.
München – Frankfurt – Nürnberg – Tegernsee
Am Münchner Hauptbahnhof beschleicht Najda Boshi das Gefühl, dass sie hier besser nicht bleiben soll. Sie fährt weiter nach Frankfurt. Warum ausgerechnet Frankfurt? „Es war mehr eine Laune“, meint sie, sie kannte die Geschichte „Heidi“ von Johanna Spyri, und die Titelheldin habe auch in Frankfurt Lesen gelernt. In Frankfurt angekommen, erbittet Najda Boshi Hilfe von der Polizei. Sie wird freundlich aufgenommen, kommt bereits nach wenigen Tagen in ein Auffanglager nach Nürnberg. Nach zwei Monaten wird sie nach Tegernsee gebracht und dort als eine der ersten in der Turnhalle einquartiert. Während sie auf ihre Papiere wartet, absolviert sie den ersten Sprachkurs und arbeitet nebenbei als Verkäuferin in einer Bäckerei. Die Verständigung ist anfangs schwierig, doch die freundliche Frau überzeugt durch ihren Charme und ihren Ehrgeiz: Die Kunden freuen sich und gewöhnen sich daran, hochdeutsch und zudem langsam zu sprechen.
80 Interessierte waren in die Kapelle Zur Heiligen Familie gekommen. Foto: MZ
Ende August 2015 kommen endlich der Vater und die beiden Kinder per Familiennachzug an. Der Vater zieht nach München, Najd Boshi versucht ihr Leben als alleinerziehende Mutter in Tegernsee zu meistern. Und es gelingt: Sie selbst wird zunächst Kassiererin bei der Schifffahrt Tegernsee und weil sie sich so gut entwickelt, bietet ihr Franz Höß, der Chef der Tegernseer Schifffahrtsgesellschaft, an, die Kapitänsausbildung zu machen. Najd Boshi besteht die Prüfung und fährt 2019 erstmals als Kapitänin auf dem Tegernsee. Sie bleibt 5 Jahre dabei. In dieser Zeit entsteht auch der Film von Birgit Deiterding (Regie) und Sonja Hachenberger (Redaktion) „Die syrische Kapitänin vom Tegernsee“ in der Reihe „Lebenslinien“ des Bayerischen Fernsehens.
Immer weiter …
Als Najd Boshi gefragt wird, warum sie nicht Kapitänin auf dem Tegernsee geblieben ist, sondern inzwischen zur TTT (Tegernsee Tal Tourismus) gewechselt ist, antwortet sie wie immer offen und ehrlich: Zum einen müsse sie Vollzeit arbeiten, um den Lebensunterhalt ihrer Familie zu sichern, nicht nur in der Saison. Zum anderen sei es auf Dauer nicht erfüllend, immer die gleiche Tour zu fahren. Najd Boshi hört nicht auf, ihren Horizont zu erweitern. Den Mut dazu hat sie.
Die Organisatoren der Reihe Markus Bogner und Monika Ziegler, Najd Boshi und Florian Burgmayer (v.l.). Foto: Annemarie Hagn
Das zahlreiche Publikum dankte Najd Boshi für die bewegende und herzerfrischende Erzählung und Florian Burgmayr für die einfühlsame musikalische Begleitung mit langanhaltendem Applaus. Die goldene Schale am Ende des Regenbogens habe man heute in der St Josef-Kapelle gefunden, resümierte Markus Bogner.
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