Der Lindenbichlhof in Unterwössen ist eine Idylle. Fährt man auf die Anhöhe hinauf, gibt es mehrere wunderbare Ausblicke: Auf die Landschaft und auf die Skulpturen von Andreas Kuhnlein. Sie haben sehr viel mit der Landschaft zu tun aber noch mehr mit dem Menschen. Denn der Bildhauer benutzt für seine Arbeiten Holz, aber nur totes Holz, solches von abgestorbenen und vom Sturm entwurzelten Bäumen. Das darin gespeicherte Leben holt der Künstler hervor und fördert menschliche Figuren zutage. Seine Skulpturen sind heute in der ganzen Welt zu sehen, in Dresden, Magdeburg, Berlin, Den Haag, Quebec. Am Münchner Flughafen ebenso wie im April 2013 im Waitzinger Keller in Miesbach.


Andreas Kuhnlein war nicht immer Bildhauer. Er machte zunächst eine Schreinerlehre und arbeitete auf dem elterlichen Hof. Dann aber ging er zum Bundesgrenzschutz. Diese neun Jahre nennt er die wichtigsten seines Lebens. „Bei uns auf dem Dorf hat es nur die heile Welt gegeben, aber jetzt war ich an der innerdeutschen Grenze, bei Demonstrationen in Brokdorf, wo Gewaltexzesse passierten und kam in Kontakt mit der RAF in Stuttgart-Stammheim.“ Diese Erfahrungen führten zu der Erkenntnis, dass der Mensch nur so lange berechenbar ist, so lange keine Grenzsituationen auftreten. „Jeder ist unberechenbar, auch ich“, sagt er. Und Gewalt sei immer möglich.


Als er die elterliche Landwirtschaft übernehmen musste, kehrte er nach Unterwössen zurück. Aber sie ernährte die Familie nicht. Andreas Kuhnlein ging nebenbei wieder schreinern. Die Arbeit machte Spaß, aber seine neue Sicht der Welt und des Menschen passte nicht zu den Vorurteilen mancher Kollegen. „Wenn die ‚Scheiß-DDR‘ und ‚die Mauer muss höher gebaut werden‘, sagten, hatte ich unheimliche Probleme, ich habe schließlich dort Streifendienst gemacht“, erzählt er. Todunglücklich und geladen sei er gewesen und habe schließlich aufgehört und selbständig gearbeitet.

Die folgenden Jahre sind für ihn, seine Frau und die vier Töchter nicht leicht. Er begann zu schnitzen und merkte schlagartig, dass ihm das Bildnerische lag. Schon bald bricht das aus ihm heraus, was die Zeit in ihm gespeichert hat. Er nimmt die Säge und legt aus dem Baum und seinem eigenen Inneren das frei, was dort angelegt ist. Was nach Außen drängt, um von anderen wahrgenommen zu werden. Aber zunächst wurde es keineswegs wahrgenommen. „Es war brutal, wir haben 12 Jahre lang unter existenzbedrohenden Zuständen gelebt“, erzählt der Bildhauer. Aber Frau und Töchter durchlebten klaglos mit ihm gemeinsam die schwere Zeit. „Ich bin sehr dankbar“, sagt er. Drei Jahre lang brauchte er, um seine erste Skulptur zu verkaufen. Aber er wusste, das was er jetzt schafft, ist das, wonach er lange gesucht hat. Er weiß, der Weg ist richtig.


Die Skulpturen Andreas Kuhnleins gehen im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut, denn der Künstler zeigt den wahren Menschen unter der Fassade, den verletzten oder verletzbaren, den vom Alter und dem Leben gezeichneten, den vergänglichen Menschen mit all seinen Schatten, es geht um Streben und Scheitern, um Zerrissenheit, aber auch um Hoffnung und Zuversicht. Da geht es um Schein und Sein, Haben und Sein im Frommschen Sinne, sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit. Historische Persönlichkeiten, wie Otto der Große, inspirieren ihn ebenso wie die Menschwerdung des Affen oder das Narrenschiff.

Andreas Kuhnlein interessieren Biografien von Menschen und er sagt: „Ich kann Emotionen schlagartig umsetzen.“ Wenn er mit Menschen spreche, dann gewährten sie ihm Einblicke in ihr wahres Ich. So hat der Künstler auch Projekte mit Patienten der Psychiatrie und mit Gefangenen einer Justizvollzugsanstalt durchgeführt. In seinem jüngsten Katalog „Berührt“ kommen sie selbst zu Wort. „Da ist ein Mensch wie ich, mit Wunden und Narben. Seine Würde aber hat er nicht verloren“, sagt der Patient und der Gefangene möchte so glatt wie Michelangelos Figuren sein, nicht so wie Kuhnleins Skulpturen. „Natürlich weiß ich aber, so bin ich.“ Andreas Kuhnlein ist ein Künstler, der mit seiner Arbeit zu den Menschen geht. Zu Patienten, zu Gefangenen, zu Behinderten, zu Blinden beispielsweise, die seine Skulpturen berühren dürfen. Und er geht zu Kindern. Es ist ihm ein wesentliches Anliegen, bei Kindern die Wahrnehmung zu wecken. Wie bei dem kleinen Bub, der fragte: „Woher hat der Mann gewusst, dass der Mann in dem Baum drin ist?“ Seine eigene Wahrnehmung des Lebens, die habe er beim Bundesgrenzschutz gelernt, resümiert der Künstler. „Ich hätte vom Leben keine Ahnung, wenn ich da nicht gewesen wäre“, sagt er.

So ist es ihm ein dringendes Anliegen, nicht nur seine Werke zu schaffen und auszustellen, sondern er sieht auch in der Kunst einen gesellschaftlichen Auftrag und eine Verpflichtung. Jüngst hat er eines seiner Werke der Hospizgemeinschaft im Weyarner Domicilium als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt. Und er begleitete unser Projekt „Spur wechseln“ mit einer Ausstellung im April 2013 im Miesbacher Waitzinger Keller.

Monika Ziegler
Publiziert 24. Januar 2013