Kerstin Holzer, Thomas-Mann-Lesung

„Der Tegernsee lebt noch in mir“

Kerstin Holzer bei ihrer Lesung im Hotel Überfahrt in Rottach-Egern. Foto: Corinna Schneider

Lesung in Rottach-Egern

Im Jahr 1918 verbrachte der Schriftsteller und Nobelpreisträger Thomas Mann mit seiner Familie den Sommer am Tegernsee. Die Münchner Autorin Kerstin Holzer hat ein Buch über diese Zeit verfasst und am Freitag im Hotel Überfahrt in Rottach-Egern vorgestellt. Es ist ein vielschichtiges Porträt über innere Zerrissenheit und Wandlung.

Der Wallberg-Raum im Hotel Überfahrt füllt sich allmählich. Die bodentiefen Fenster geben einen herrlichen Blick auf den See frei, der in der Sonne funkelt. Nicht allzu weit entfernt, in Abwinkel am Ringsee, liegt die Villa Defregger, in der Thomas Mann mit Frau Katia und den fünf Kindern im Jahr 1918 eine zweimonatige Sommerfrische verbrachte. Die jüngste Tochter, Elisabeth, war erst ein paar Monate alt.

Genau dieser Urlaubszeit am Tegernsee widmet sich Kerstin Holzer in ihrem neuen Buch „Thomas Mann macht Ferien – Ein Sommer am See“, das vor wenigen Tagen im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Für die in München und in Bad Wiessee lebende Autorin war es nicht das erste Mal, dass sie sich mit den Manns befasste. Bereits zwei Bücher hat sie über diese berühmte Familie geschrieben: den Spiegel-Bestseller „Elisabeth Mann Borgese – ein Lebensportrait“ und zuletzt „Monascella – Monika Mann und ihr Leben auf Capri“.

Sommerfrische mit der Familie am Tegernsee

„Nach einem Idyll hat er sich gesehnt in diesem Sommer, das hat er gebraucht nach vier Jahren Krieg: den Krieg der Deutschen gegen die Welt, den Krieg gegen den Bruder, den Krieg gegen sich selbst“, liest Kerstin Holzer aus ihrem Buch vor. Der damals 43-Jährige, der den Tegernsee schon von früheren Reisen kannte, fand Gefallen an dem gemieteten Feriendomizil, das einem Sohn des Malers Franz Defregger gehörte. „Dies ist wirklich ein reizender Punkt“, schrieb Thomas Mann seinem Vertrauten, dem Germanisten Ernst Bertram. Das Haus verfügt über einen eigenen Seezugang, einen kleinen Strand und ein Bootshaus mit Ruderboot. Ein Paradies also für die Familie, die bis 1917 ein Ferienhaus in Bad Tölz besessen hatte.


Das neue Buch „Thomas Mann macht Ferien – Ein Sommer am See“ von Kerstin Holzer. Foto: Corinna Schneider

So einfach war es jedoch nicht mit der Erholung am Tegernsee, erläutert die Autorin. Der viele Regen und Zahnschmerzen plagten Thomas Mann. Auch die katastrophale kriegsbedingte Ernährungslage machte der Familie zu schaffen. „Die Not ist groß im Hungerjahr 1918. Dünn sind sie geworden, die Manns, die Erwachsenen wie die Kinder“, liest Kerstin Holzer vor. Um die karge Verpflegung aufzubessern, sammelten die Kinder sogar dicke Schnecken von der Wiese. „Die Weichtiere schmecken zwar nicht besonders, aber der Hunger war größer als der Widerwille“, trägt sie weiter aus ihrem Buch vor.

Thomas Mann in einer tiefen inneren Krise

Das Schlimmste aber war, dass der Autor des Romans „Die Buddenbrooks“ selbst in einer tiefen Krise steckte. Seine größte Sorge galt dem Vaterland sowie seiner Rolle als Autor. Er war ein glühender Anhänger der Monarchie und befürwortete den Krieg. Im Oktober 1918, also nach der Sommerfrische, sollte sein 600-Seiten-Werk „Betrachtungen eines Unpolitischen“ erscheinen. Ein Manifest seiner konservativen Haltung und zugleich scharfe Kritik an der pazifistischen und demokratischen Haltung seines Bruders Heinrich Mann. Dafür hatte Thomas Mann sogar seine Arbeit an seinem Jahrhundertroman „Der Zauberberg“ unterbrochen. „Er war voller Hoffnung auf einen glorreichen Sieg, der dann auch der eigene wäre“, liest Kerstin Holzer weiter aus ihrem Buch vor.

„Herr und Hund“ entsteht am Tegernsee

Doch bereits zur Zeit seiner Sommerfrische am Tegernsee zeichnete sich die militärische Niederlage ab, zu der es im November 1918 kam. „Er war historisch auf einem falschen Dampfer“, sagt Kerstin Holzer. Daraus entspann sich auch eine unterschwellige Spannung mit seiner Frau Katia, die das „Kriegshurra“ ihres Mannes kritisch sah, auch wenn sie loyal zu ihm hielt.

In der Sommerfrische am Tegernsee wollte Thomas Mann wohl diesen inneren Verdruss ausblenden. Er rudert auf dem See, geht spazieren und besteigt erstmals zusammen mit Katia einen Berg, den Hirschberg. Literarisch widmete er sich dort einem eher ungewöhnlichen Thema: Er schrieb die Erzählung „Herr und Hund“. Sie handelt von seiner Beziehung zu seinem Vierbeiner Bauschan und dessen feinem Charakter. „Es ist die beste Lockerungsübung, die er sich im Moment wünschen kann“, erläutert Kerstin Holzer den Hintergrund dieser Arbeit.

Beginn der inneren Wandlung von Thomas Mann

Genau diese Erzählung inspirierte auch Kerstin Holzer zu ihrem Buch. Als frischgebackene Hundehalterin verbrachte sie viel Zeit am Tegernsee. Dass Thomas Mann sich in der größten Krise seines Lebens befand, fesselte die Autorin. „Mich hat fasziniert, dass dieser Sommer 1918 den Beginn einer inneren Wandlung markiert.“

„Tegernsee lebt noch in mir“, vertraute Thomas Mann nach seiner Rückkehr seinem Tagebuch an. „Ohne die Einsichten dieser Zeit hätte sich Thomas Mann nicht zum entschiedenen Demokratie-Befürworter entwickelt, als den wir ihn heute erinnern“, sagt Kerstin Holzer. Nach der Machtergreifung Hitlers verließ er mit der Familie Deutschland. Im Exil, zuerst in der Schweiz und später in den USA, war er eine der lautesten Stimmen gegen den Faschismus und das NS-Regime.

Thomas Manns Werk aktueller denn je

Im Juni dieses Jahres feiert die Literaturwelt den 150. Geburtstag von Thomas Mann. Passt sein Werk noch in die heutige Zeit? „Und wie!“, sagt Kerstin Holzer. So gäbe es keinen treffenderen Begriff für unsere nervöse Gegenwart als die „große Gereiztheit“, die er im „Zauberberg“ analysiere. Sie beschreibt die angespannte Lage und Atmosphäre vor dem Ersten Weltkrieg.


Barbara Schäfer (links) von der Seebuchhandlung in Rottach-Egern moderiert die Lesung. Foto: Corinna Schneider

Auch das Thema unerfüllte Sehnsucht in Manns Werk fasziniert die Autorin. „Er hat das Leiden an der Unmöglichkeit seiner homoerotischen Sehnsüchte seiner Literatur eingeschrieben“, sagt sie. Damit erzähle er vom stillen Drama der Allermeisten, nicht alle Träume ihres Lebens erfüllt zu sehen – und nicht alle Aspekte ihrer Persönlichkeit ausleben zu können. All diese Themen greift Kerstin Holzer auch in ihrem Buch auf. „Ein echter Pageturner“, resümiert Barbara Schäfer von der Seebuchhandlung in Rottach-Egern, die die Lesung in der Überfahrt moderiert hat.

Das Buch „Thomas Mann macht Ferien – Ein Sommer am See“ von Kerstin Holzer ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet 22 Euro.

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