
Eine Reise zum Ich
Erzählen von Heil-werden und der Kraft des Individuums: Lydia Starkulla (links) und Christiane Ahlhelm. Foto: Andreas Wolkenstein
Christiane Ahlhelm und Lydia Starkulla lassen viel Spielraum bei der Interpretation ihres Stückes „Zerspringding & Repariertier“ – und das im besten Sinne. Ihr Spiel bietet eine abenteuerliche Reise durch das Universum oder, je nach Perspektive, eine philosophische zum eigenen Ich. Was genau die Zuschauer auf der Bühne sehen, wollen die Schauspielerinnen des Theaters „Kunstdünger“ nicht vorgeben. Das überlassen sie vielmehr der Fantasie ihrer Zuschauer, zuletzt im Holzkirchner FoolsTheater.
Wenn alles Werkzeug nichts hilft
Wenn Gerda, eine der beiden Protagonisten des Stücks „Zerspringding & Repariertier“ (gespielt von Christine Ahlhelm), fröhlich umherspringt, dann begleiten sie die Töne ihrer Spieluhr. Dass nicht wirklich eine Melodie erkennbar ist – oder vielleicht gerade deshalb –, scheint Gerda nicht im Geringsten zu stören. Doch kurz bevor sie sich zum Schlafen legt, passiert es: Die Spieluhr zerspringt, die Stimmung ist dahin. Was also tun? Zu Hilfe eilt das Repariertier, Gerdas zum Leben erwachter kleiner Plüschhund (Schauspielerin: Lydia Starkulla). Glücklicherweise hat das Repariertier einen überdimensionierten Werkzeugkasten dabei. Darin befindet sich alles, was Gerda potentiell helfen kann, eine Söge etwa und andere Werkzeuge. Doch es nützt zunächst alles nichts, die Reparatur gestaltet sich schwieriger als erhofft.
Machen sich gemeinsam auf die Suche: Gerda, gespielt von Christiane Ahlhelm (links) und Lydia Starkulla in der Rolle des Repariertiers. Foto: Andreas Wolkenstein
Suche nach der Scherbe
Das Spiel der beiden Mimen Christina Ahlhelm und Lydia Starkulla vom Theater „Kunstdünger“ auf der Bühne des Holzkirchner FoolsTheaters kommt gänzlich ohne Worte aus. Auf beeindruckende Art nehmen sie ihre Zuschauer allein durch die Mimik, die pointiert ausgeführten Bewegungen und mit Hilfe eingespielter Töne durch die Geschichte. Es hat etwas Clowneskes, wie sich die beiden Schauspielerinnen gekonnt über die Bühne bewegen. Das überzeugt die großen und die kleinen Besucher: Immer wieder tönt ein Lachen aus kleinen Kindermündern durch den Theatersaal. So zum Beispiel, als das Repariertier ein Scheppern im Inneren Gerdas entdeckt und die beiden schließlich entdecken, dass in Gerda auch etwas zerbrochen ist. Der Versuch, die Scherben einzusammeln, gelingt nicht ganz, also müssen sich die beiden Protagonisten auf eine Reise begeben, um die letzte Scherbe finden.
Zuschauer konstruieren mit
Die Frage ist nun, wohin diese Reise geht. Christiane Ahlhelm und Lydia Starkulla verleihen ihren Figuren eindrucksvoll Leben, wenn Gerda und das Repariertier tiefe Meere, geheimnisvolle Inseln und hohe Berge durchstreifen. Das Bühnenbild (Sibylle Kobus) unterstützt sie auf kongeniale Weise. Es besteht lediglich aus miteinander verbundenen hölzernen Dreiecken. Diese können leicht so miteinander kombiniert werden, dass daraus ganze Landschaften entstehen. Nur vor dem inneren Auge der Betrachter natürlich, denn auf der Bühne geht es vergleichsweise spärlich zu. Doch genau darin besteht die Stärke des Stücks, das unter der Regie von Michl Thorbecke entstanden ist. Es verlangt, dass die Zuschauer das Narrativ mitkonstruieren. Erst durch die Realisierung im Kopf der Zuschauer wird „Zerspringding & Repariertier“ vollendet. So hört man beim Verlassen des Theatersaals auch die eine oder andere Diskussion: War die Insel in Wirklichkeit ein Wald? Ging es am Ende ins Weltall?
Kongeniales Bühnenbild. Foto: Andreas Wolkenstein
Kraft des Individuums
Klar ist, dass sich die Geschichte nicht nur an Kinder und Jugendliche richtet. Denn Gerdas und Repariertiers Reise ist auf mehreren Ebenen angesiedelt. Auf der obersten Ebene geht es durch die vielfältigsten Landschaften und (Fantasie-)Welten. Doch blickt man etwas tiefer in das Stück, dann eröffnet sich eine ganz neue Perspektive: Gerda reist zum eigenen Ich, durchfährt ihr eigenes Bewusstsein, macht sich auf, um vielleicht ein Seelenfünklein zu finden. Sie, die nicht mehr ganz ist, weil etwas in ihr zersprungen war, sucht nach Heilung. Unterstützung erfährt sie durch ihren treuen Begleiter, das Repariertier, das sie begleitet, anleitet und motiviert. Doch letztlich zeigen Christine Ahlhelm und Lydia Starkulla, dass der un-heile Mensch aus eigener Kraft wieder ganz werden kann. Den letzten Kampf gegen ein Ungeheuer nimmt Gerda mutig auf – allein und mit Erfolg. So wird die Geschichte von Gerda und dem Repariertier zu einer nahezu philosophischen Auseinandersetzung mit der Kraft des Individuums: Während es Hilfe von außen erhalten kann, muss es den letzten Schritt selbst gehen, um Heilung zu finden. Das Ermutigende dabei: Es kann diesen Schritt eben auch gehen.
Zum Weiterlesen: Die Welt steht Kopf. Kunstdünger e.V. wird 25 Jahre alt.