
In katzenhafter Geschmeidigkeit rückwärts über die Wiese schleichen
Fundstücke aus dem Wald. Foto: Ines Wagner
Kunst und Achtsamkeit draußen im Freien
Der Flecken am Waldrand ist atemberaubend schön und geheim. Beim nächsten Mal werden Katrin Dickhaus und Bettina Warnecke einen anderen Ort aussuchen. Sehr sorgfältig aussuchen, denn der Ort ist wesentlicher Teil ihres Seminarprojektes „Frühlingsgestalten“. Es geht ihnen darum, im Draußen zum Teil des Raumes zu werden, Kunst und Achtsamkeit im Freien zu erleben, statt in einem Seminargebäude.
Experiment unter freiem Himmel
Wir stehen barfuß auf den sonnenwarmen Holzdielen einer kleinen Veranda, den Rücken einem verwunschenen, alten Bienenhaus zugewandt. Unser Blick schweift frei ins liebliche Tal. Dort drüben, auf der anderen Seite in den Bergen, regnet es Hunde und Katzen. Über uns spannt sich ein blauer Himmel. Gleich werden wir unsere nackten Füße ins morgenfeuchte Gras stellen.
Aber zuerst sollen wir unseren Körper wecken, wach werden ohne Sinn und Verstand, bevor das Geistige kommt. Wir strecken und dehnen uns, gähnen herzhaft, schütteln Arme und Beine, und los geht’s. Wir sind einen Tag lang dem Erleben der Geheimnisse der Natur und der Sprache auf der Spur, im Achtsamsein mit Körper, Atem und Stimme. Und im Ausprobieren von künstlerischen Arbeitstechniken.
Präsenz im Sprechen – Katrin Dickhaus zeigt, wie
Wir lernen von Katrin Dickhaus achtsames Gehen im feuchten Gras. Spüren die Kühle und Frische der Halme, die Unebenheiten unter unseren Fußsohlen, den langsamen Bewegungsablauf, mit offenen und geschlossenen Augen. Rückwärtsgehen fällt uns erstaunlicherweise ganz leicht, „in katzenhafter Geschmeidigkeit“, wie eine Teilnehmerin bemerkt. Zurück auf den wärmenden Holzdielen erwecken wir nun auch noch unsere Gesichter.
Wir ziehen Grimmassen, brabbeln, brummeln, zischeln, fischeln, lallen Töne, sprechen Silben und Sätze. Wir lernen, dass das „rollende R“ den Kehlkopf lockert, und dass das „F“, das Gähnen und das Rülpsen alle Gesichtszüge entspannt. Katrin Dickhaus erklärt uns, mit welcher Körperhaltung wir die Stimme aus der Mitte heraus bilden können, damit sie Kraft und Präsenz hat und der Atem frei fließt. Wir wollen gar nicht wieder aufhören, Sätze ohne Sinn wie „Komm, kurzer kräftiger Kerl!“ in Richtung Dielenboden zu hacken, aber jetzt sollen wir wieder zu Ruhe kommen.
Mit Haikus durch den Tag
Wir ziehen ein Haiku, ein japanisches Kurzgedicht, aus dem Kartenstapel. Dieses Haiku, erstaunt uns, scheint für jeden maßgeschneidert zu sein. Es lässt beim Lesen und Zuhören ein lebhaftes, persönliches Bild entstehen und begleitet uns durch den restlichen Tag.
Haiku: Jeder Augenblick ist von unendlichem Wert. Foto: Ines Wagner
Nach einem liebevoll zubereitetem Mittagessen geht es auf in den Wald. Ja, und das ist ein richtiger Märchenwald! Denn zu einem geheimnisvollen Ort, über dem die Sonne scheint, während es rundherum regnet, gehört auch ein Märchenwald. Dort stehen hohe Buchen, Efeu schlängelt sich über den Boden und erobert die Bäume, zwischen deren Wurzeln Fuchshöhlen liegen.
In dieser zauberhaften Umgebung können wir gar nicht anders, als einen anderen Blick auf die Dinge und deren Wesen zu entwickeln, um sie zu ergründen. Wir spüren hinein in den Wald und seine Geheimnisse. Und nehmen einige Dinge mit, die uns vor die Füße fallen und geeignet erscheinen, mit ihnen künstlerisch zu arbeiten: Wurzeln und Zapfen, Holunderblütendolden, einen Tierschädel.
Tonarbeit mit Bettina Warnecke
Bettina Warnecke hat Ton mitgebracht, Pinsel und Farben, Stifte und Kreiden, Zeichenblock, Leinwand und Stechbeitel samt Raspeln zur Holzverarbeitung. Nun können wir loslegen, verbringen den Nachmittag malend, skizzierend, mit Ton arbeitend. Petrus hält zu uns, wie ein Wunder, bis Punkt 18 Uhr. Wir resümieren im Schutz des Bienenhauses mit Blick über das weite Tal: Ein Verwöhntag geht zu Ende, mit reicher Fülle an Sinneseindrücken, an sattem Grün. Es war ein Seelentag, der verflogen ist wie auf einer Welle außerhalb von Zeit und Raum. Dem man noch lange nachspüren kann.