Sylvia Rothes Filme sind stille Filme. Ein kleinerer Teil befasst sich mit alten Kulturgütern, die es zu bewahren gilt oder mit Umweltfragen. Den größeren Teil ihrer Arbeit aber widmet sie sozialen Projekten. Sie begleitet muskelkranke Kinder auf Reisen („7 Tage auf 48 Rädern“). Sie geht mit Strafgefangenen, die Schwerkranke in Sänften tragen, in die Schweizer Alpen („Einer trägt des anderen Last“). Sie porträtiert einen dieser MS-Kranken, der zum Schriftsteller wurde („Vital.etc“). Sie besucht Vreni, die ehemalige Lehrerin, die jetzt oben am Berg Landwirtschaft betreibt und jeweils einen sogenannten Schwererziehbaren bei sich aufnimmt („Mont“). Sie macht mit verhaltensauffälligen Kindern und ihrem Lehrer einen Film über ihre Alpenüberquerung („Via Alpina“).

Die Geschichte der Filmemacherin Sylvia Rothe beginnt in Schwarze Pumpe. So heißt der Ort in der Lausitz, wo sie aufwuchs. Ihre besondere Begabung war die Mathematik und so absolvierte sie nach der 10. Klasse eine Spezialklasse Mathematik/Physik an der Humboldt-Universität Berlin, der das Mathematikstudium folgte. Eigentlich hatte Sylvia Rothe ja zur See fahren, die große weite Welt bereisen und Funkerin werden wollen, aber trotz ihres Durchschnitts von 1,0 nahm man sie nicht. In der DDR galten andere Normen.

Während des Studiums heiratete sie, bekam zwei Kinder und wollte trotzdem Wissenschaftlerin werden und promovieren. Dann aber kam die Wende. Wissenschaftler aus Westberlin mit vermeintlich besserer Qualifikation, aber mit Auslandserfahrungen kamen in den Osten. „Ich hatte den Eindruck, keine Chance mehr zu haben“, erzählt sie. So entschied sie sich, in die Industrie zu gehen. Bei Siemens in München erhielten sie und auch ihr Mann eine Anstellung und sie machte jetzt das was sie, die eher von der reinen Mathematik fasziniert war, nicht wollte, nämlich Informatik. Aber zunächst war es ihr wichtig, dass es den Kindern gut geht, dass sie ein sicheres Einkommen hat und dann machte ihr die Computerarbeit doch Spaß, mehr als je erwartet. Das ist jetzt 20 Jahre her und, wie sagt, „das Beste, was uns damals passieren konnte.“

Aber die Zeiten änderten sich. Alles musste schneller gehen, wurde globaler. Aus Ausgleich ging die Mathematikerin in ihrer Freizeit gern auf ein Boot zur Entspannung. Und bei einer Fahrt mit ihrem Segelboot auf der Donau von Passau ans Schwarze Meer passierte es.

Sie wollte ihre Reise mit der Kamera begleiten, aber dann nahm die Filmerei überhand, wurde wichtiger als die Reise selbst. Ihre Zukunft hatte begonnen. Das war 2004. Schnell wechselte sie von privaten zu allgemeinen Themen. Von Kurzfilmen von zehn Minuten Dauer zu Stundenfilmen. Die Themen suchten und fanden sie und waren in der Freizeit nicht mehr zu bewältigen. Sie reduzierte ihre Arbeit als Informatikerin.

Als Sylvia Rothe einen Hörsturz erlitt, begriff sie, was der Körper ihr signalisierte. Sie war aus dem Gleichgewicht gekommen und fühlte sich zerrissen zwischen ihrer IT-Arbeit und den Filmprojekten. Vor zwei Jahren schließlich wagte sie den Sprung in die Selbständigkeit. Zu Hilfe kamen ihr dabei mehrere Dinge. Zum einen sind die Kinder aus dem Haus. „Ich muss mich nicht mehr um sie kümmern, mein Kopf ist jetzt frei“, sagt sie. Zum anderen hatte sie über ihre Abfindung und einen Gründungszuschuss Mittel, ihren neuen Weg zu finanzieren. „Aber es ist ein finanzieller Verlust“, konstatiert Sylvia Rothe, „bis zur Rente reicht es nicht.“ Nie würde sie mit ihren Filmen so viel verdienen wie früher, aber das ist ihr nicht wichtig. Sie hofft nur, dass sie ihr Leben und ihre Filme finanzieren kann.

„Meine drei letzten Filme handelten alle von Spurwechslern“, stellt Sylvia Rothe plötzlich im Gespräch fest. Der MS-Kranke musste seinen Beruf als Pfarrer krankheitsbedingt aufgeben und schreibt Theaterstücke und ein Buch über seine Gedanken. Vreni quittierte den Dienst als Lehrerin, arbeitet jetzt hart, aber zufrieden auf ihrem Hof, auf dem sie Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen hilft, wieder im Leben Fuß zu fassen. Und der Lehrer, der mit den problembehafteten Kindern zum Wandern aufbrach, neue Methoden ausprobierte, dem wurde gekündigt. Zwar gewann er den Prozess, plant aber jetzt einen Aktivhof für die Sinnstiftung von Gerald Hüther.

Ihren eigenen Spurwechsel bereut Sylvia Rothe keine Sekunde. Es war richtig. Und die finanziellen Verluste waren einkalkuliert. Sie schaut zuversichtlich in die Zukunft. Themen für ihre Filme liegen auf der Straße, das Problem ist immer nur, wie lassen sie sich finanzieren.

Inzwischen hat sich die Filmemacherin einen guten Ruf erarbeitet. Sie wurde bereits mit ihrem allerersten Film über den Schafabtrieb in Südtirol zu den Weltmeisterschaften des nicht kommerziellen Films eingeladen und ist gern gesehener Gast bei Festivals, wo sie auch bereits Preise gewann. Beim jüngsten Bergfilmfestival in Tegernsee zeigte sie „Via Alpina“ mit großer Publikumsresonanz. Und es gibt neue Projekte. Vielleicht will sie einen Film im Waldviertel machen, nördlich der Donau, da, wo ihr Spurwechsel begann. Derzeit befasst sie sich mit der Isar. An diesem Projekt wirken auch Schüler mit und sie erprobt, wie sie neue Medien für die Darbietung nutzen kann.

Und noch einen Wechsel hat Sylvia Rothe initiiert, den der Perspektive. Sie führt jährlich einen Workshop mit muskelkranken Kindern durch, lässt sie die Welt aus ihrer Sicht aus dem Rollstuhl filmen. „Das kann für sie ein Quell der Lebensenergie sein“, sagt sie, „und ich kann so viel von ihnen lernen.“

Monika Ziegler
Publiziert 25. Januar 2013