Seine erste Berufswahl war, so sagt Bertram Verhaag heute, unbedarft und ohne Ahnung vom beruflichen Alltag, schließlich habe es früher keine Schnupperkurse und Praktika gegeben. Er sei einfach dem Vater in der Spur gefolgt. Dieser war promovierter Volkswirtschaftler und Techniker. Da sein Bruder Techniker geworden sei, habe er gemeint, er müsse den volkswirtschaftlichen Anteil übernehmen. Zunächst aber hatte er Betriebswirtschaft, Soziologie und Ökonomie studiert, in den 68er Jahren viel Marx und Engels gelesen, was ihm zum ersten Mal einen kritischen Blick auf unsere Gesellschaft eröffnete. Dann aber wechselte er zur Volkswirtschaft, „weil es da nicht so viel Statistik“ gab. Richtig Spaß aber machte es ihm nicht, er fiel auch einmal durch, und erst als er mit anderen Studenten einen Arbeitskreis gründete, wo man sich den Stoff gemeinsam erarbeitete, habe er verstanden, worum es eigentlich gehe. Spaß aber habe es immer noch nicht gemacht, diese Frage habe er sich gar nicht gestellt. Damals vor fünfzig Jahren.

Bertram Verhaag wurde in Oberschlesien geboren. Seine Mutter floh mit ihm und dem älteren Bruder, da war er eineinhalb. Sie kamen zum Hof des Vaters am Niederrhein, dort wuchs er auf. Später wechselte die Familie ins Bergische Land, wo er sein Abitur ablegte. Danach ging er zur Bundeswehr. „Ich wollte von zu Hause weg“, erklärt er. Und dann also das Studium mit Abschluss in Volkswirtschaft. Drei Jahre lang arbeitete er für das Stadtentwicklungsreferat der Landeshauptstadt München. Gemeinsam mit einer Studienkollegin erstellte er Studien, die nahe am Leben waren. Das machte Spaß, das interessierte ihn. So untersuchte er beispielsweise die Frage, wie die sogenannte Zweckentfremdungsverordnung umgesetzt wurde, heißt, ob Wohnraum zu Gewerberaum umgewandelt wird. Es stellte sich heraus, dass insbesondere alte Menschen aus ihren Wohnungen in der Innenstadt an die Stadtränder vertrieben wurden, weil man die begehrten Flächen zu teurem Gewerberaum umwidmete. Auch wurden Mietwohnungen nach Renovierung zu Eigentumswohnungen gemacht, die von solventen Firmen aufgekauft wurden.

Diese soziologischen Fragen trieben Bertram Verhaag um. Dann aber musste er feststellen, dass seine Studien in geheimer Sitzung „verschwanden“. „Ich war frustriert“, sagt er. Da er das Gefühl gehabt habe, zu wissen, wie die Verwaltung funktioniert, kam ihm die Idee, seine Erkenntnisse und Überzeugungen zu veröffentlichen. Dazu erschien ihm der Film als das geeignete Medium und er bewarb sich bei der Filmhochschule und wurde angenommen. Da er sein erstes Studium bereits selbst finanziert hatte, fiel es ihm nicht schwer, noch einmal früh morgens Zeitungen zu verkaufen oder als Statist beim Film zu arbeiten.

Nach Abschluss des Studiums entschied er sich, nicht den eher leichten und billigen Weg der Reportage, die die übliche Produktionsweise ist, zu gehen. Er erklärt: „Bei der Reportage werden Bilder gezeigt und ein Erzähler beschreibt, worum es geht.“ Für ihn war das nicht die ideale Erzählweise. Er wollte Dokumentarfilme machen, in denen er die betroffenen Menschen selbst zu Wort kommen lässt. Das erfordere viel mehr Arbeit, ein viel intensiveres Drehen, viel mehr Material, was am Ende gesichtet und geschnitten werden muss, aber es ist authentisch, denn die Menschen in ihrer Situation sprechen ganz anders als es ein Erzähler tut.

Natürlich begann er mit Mietgeschichten. Er habe sich nach Menschen umgeschaut, die in seinen Filmen über ihre Situation sprechen wollen. Danach kam Wackersdorf. Zehn Jahre lang widmete sich Betram Verhaag diesem Thema der geplanten Wiederaufbereitungsanlage. „Ich bin grundsätzlich daran interessiert, zu einem Projekt mehrere Filme zu machen“, sagt er. Das zahlt sich aus, denn der Regisseur dringt so tief in das Thema ein und wird selbst zum Experten. Seine Filme gewinnen zunehmend an Akzeptanz und an internationalem Ansehen. Als er sich dem Thema „Rassismus“ zuwendet, kann er mit dem Film „Blue Eyed“ 14 internationale Preise einheimsen. Der Film, in dem es um ein Schulprojekt geht, wo die Lehrerin die Schüler in Blau- und Braunäugige einteilt, zeigt wie schnell Vorurteile Macht gewinnen können.

Zehn Jahre lang widmete sich Bertram Verhaag dem Thema Grüne Gentechnik und wurde auch hier zum Experten. Sein Film „Leben außer Kontrolle“ wurde schnell zum Standardwerk zum Thema Gentechnik. „Tote Ernte“ zeigt die verheerende Wirkung von Terminator-Saatgut, das nur einmal keimfähig ist. Landwirte müssen immer wieder nachkaufen, sind abhängig von der Saatgutindustrie, werden insbesondere in Indien in den Ruin getrieben. Im Nachfolgefilm „Gekaufte Wahrheit“ stellt er dar, dass 95 Prozent der Wissenschaftler in der Gentechnik abhängig von der Industrie sind. Er zeigt aber auch die anderen, die mutigen, die kritische Studien veröffentlichen und damit ihren Job verlieren.

Es war und ist sein Anliegen, Menschen in seinen Filmen zu zeigen, die Widerstand leisten, die vorbildhaft für die Gesellschaft sind. In seiner jüngsten Reihe stellt er Menschen aus der ökologischen Landwirtschaft vor, Landwirte, die ihren eigenen Weg gehen und naturbelassen wirtschaften. Auch sie stellen sich gegen den Strom, aber sie sind Vorbilder. So wie die Bauern aus dem Allgäu, die ihren Kühen nicht die Hörner und damit ihre Persönlichkeit nehmen.

Bertram Verhaags Filme, die weltweit Preise erringen, gehen unter die Haut. Er weiß, wie man Filme macht, er weiß, wie man Gespräche so geschickt führt, dass die Menschen überzeugend ihre Meinung vertreten. So können die Aussagen kommentarlos stehen bleiben, kein Erzähler entmündigt den Zuschauer, der sich seine Meinung selbst bilden kann. Nicht umsonst heißt Verhaags Produktionsfirma in München DENKmal-Film. Er trägt mit seiner Arbeit zum Gewissen der Menschen bei und das tut er mit Information und mit Gefühl.

An Aufhören denkt der Filmemacher noch lange nicht, hundert Ideen habe er in Reserve, sagt er. Die Frage sei immer nur, wie man einen Finanzier finde. Oft dauere es mehrere Jahre und das sei nervend. Aber dennoch, „Filme machen, das ist meins“, sagt er. In seinem dritten Leben nach der Jugend und dem falschen Studium ist er nun zu Hause. „Es war richtig“, betont, „ich freue mich, dass der Anstoß gekommen ist und dass ich den Mut hatte, darauf einzugehen.“ Heute macht er mit seiner Arbeit anderen Menschen Mut.

Monika Ziegler
Publiziert 29. November 2013